
Der Junge und der Reiher in unserer Film-Rezension – Ein neuer Klassiker von Studio Ghibli?
Geschrieben von Laura Strack am 03.01.2024
Am 04.01.2024 kommt mit Der Junge und der Reiher das neueste Werk des Anime-Großmeisters Hayao Miyazaki in die deutschen Kinos. Nach einer siebenjährigen Produktionszeit und einem zwischenzeitlichen Bangen um die Zukunft des Studio Ghibli dürfen Fans der bekannten Filmschmiede noch einmal in den Genuss seiner Regie-Arbeit kommen. Der Film startete in Japan bereits Mitte des Jahres, wurde jedoch kaum beworben. Es war vor allem die Mundpropaganda der Fans, welche die Veröffentlichung des Films auch auf internationaler Ebene im Stillen bewarb. So erwartete auch mich kurz vor Weihnachten in einer Vorpremiere in Deutschland ein nahezu voller Kinosaal. Die Keywords „Studio Ghibli“ und „Hayao Miyazaki“ ziehen die Menschen einfach an, denn sie gelten als Synonym für faszinierende Welten und wertige Animationsarbeit. Erst kürzlich haben wir in einem Spezial tiefere Einblicke in die Geschichte, die Zukunft und das Wirken des Studios erhalten. In dem heutigen Text soll es ausschließlich um den aktuellen Kinofilm gehen. Wird das Spätwerk Miyazakis seinem Ruf gerecht?
Japan im Jahre 1943. Der zwölfjährige Mahito verliert während eines Luftangriffs auf Tokyo seine Mutter Hisako. Sein Vater Shoichi, Leiter einer Munitionsfabrik, flieht daraufhin mit ihm und seinen Bediensteten aufs Land und heiratet die Schwester seiner verstorbenen Frau, Natsuko. Mahito findet sich mit der neuen familiären Situation, dem fremden Wohnort und dem Besuch einer anderen Schule nur schwer zurecht. Hinzu kommt dieser merkwürdige Graureiher, der sich sonderbar verhält und mit ihm zu kommunizieren scheint. Ein Turm im Wald hinter dem Anwesen weckt hingegen sein Interesse, doch die Bediensteten raten ihm von einer Erkundung vehement ab. Spätestens als die schwangere Natsuko verschwindet und zuletzt in der Nähe jenes Turms gesehen wurde, begibt er sich zu diesem Ort. Im Laufe des Films entdecken wir gemeinsam mit Mahito, was hinter dem Graureiher, dem Turm sowie dem Verschwinden seiner Tante steckt. Dabei erwarten uns nicht nur Familiengeheimnisse, sondern auch magische Wesen und eine fremde Welt.

Mahito macht eine schwierige Zeit durch und begibt sich auf eine Reise, die einer Abschiednahme gleichkommt
© Kabushiki Kaisha Studio Ghibli
Nach ereignisreichen ersten Minuten plätschert der Film im ersten Drittel der 124 Minuten zunächst vor sich hin. Das langsame Pacing vermittelt zunächst den Eindruck, dass Miyazaki von dem individuellen Schicksal eines Jungen in Kriegszeiten erzählen möchte. Doch ab dem zweiten Drittel des Films werden neue Orte, Personen und Themen eingeführt, phasenweise scheinen sich die Ereignisse gar zu überschlagen. Dabei kommen die aufgeworfenen Themen auch für Ghibli-Verhältnisse sehr komplex daher und bieten viel Raum für Interpretation. So werden Leitmotive wie Chaos und Ordnung, Verlust und Verantwortung vertieft. Einige der Themen bleiben ohne eine vorgefertigte Lösung und bieten Stoff zum Nachdenken. Das verhindert jedoch nicht, dass man den Film nicht einfach genießen kann. Hinter einer leicht verständlichen Oberfläche befindet sich viel Tiefe; das Geheimrezept eines guten Familienfilms. Bei den Filmen des Studio Ghibli findet sich dieses Grundprinzip immer wieder und hier wird es gekonnt angewandt. Zudem überrascht der Film immer wieder mit neuen Ideen, Wendungen und einer kreativen Inszenierungen der Welt.
Auch die Animations- und Zeichenarbeit weiß zu überzeugen. Detaillierte und realistisch gehaltene Hintergrundbilder werden kombiniert mit meist hervorragend animierten Bewegungsabläufen im Vordergrund. Die realistischen Natur- und Umgebungszeichnungen werden durch einen eher farbenfrohen Stil sowie die Charakterdesigns aufgelockert, wobei einige Figuren auf eine sympathische Art und Weise sehr überzeichnet sind; so beispielsweise die alten Damen, welche die Bediensteten des Hauses sind. Die optische Inszenierung wird mit einigen weiteren i-Tüpfelchen versehen. Herausstechend sind beispielsweise die Animationen von Mahito am Anfang des Films, wie er in verzerrten Bildern durch ein brennendes Tokyo läuft; hier spiegeln sich seine Emotionen in der Animation wider. Oder etwa die explizite Darstellung eines blutüberströmten Pelikans, welche den Film zeitweise auch in ein brutaleres Licht rückt. Diese Kombination aus Realismus, herausstechenden Charakterdesigns und hochwertiger Animation machen viele Filme Miyazakis aus und auch in diesem Fall wird man in keinster Weise enttäuscht. Erwähnenswert sind auch die Vielfalt und Kreativität der inszenierten Orte; die schönsten Kulissen des Films werden nicht durch Trailer oder anderes Werbematerial verraten, sodass der Film einen hiermit überrascht.
Neben Miyazaki sind weitere namhafte Personen an dem Film beteiligt. Toshio Suzuki, Mitbegründer des Studio Ghibli, war ein weiteres Mal als Produzent tätig. Die Musik stammt von Joe Hisaishi; dieser zeichnet für die musikalische Untermalung vieler Ghibli-Klassiker verantwortlich und ist für sein Lebenswerk weltbekannt. Auch hier zeigt der 73-Jährige erneut hervorragendes Fingerspitzengefühl dafür, die unterschiedlichen Stimmungen des Films und wichtige Ereignisse musikalisch gekonnt in Szene zu setzen. Ob es eine Parade, das Entdecken neuer Orte oder eher ruhigere Momente im Film sind: Die sehr unterschiedlichen Stücke gehen gut ins Ohr, ohne die Szenen zu überlagern. Das Drehbuch des Films stammt hingegen von Miyazaki selbst. Der japanische Jugendroman „Kimitachi wa Dō Ikiru ka“ (zu deutsch: „Wie lebt ihr?“) diente hierbei als Inspirationsquelle und ist Namensgeber des japanischen Filmtitels. Es handelt sich jedoch nicht um eine Adaption, vielmehr platzierte Miyazaki das Buch als Hommage in dem Film und stellt nur einen oberflächlichen Bezug dazu her. Die Geschichte des Drehbuchs setzt sich vielmehr aus historischen, autobiografischen und fantastischen Elementen zusammen und ist als Originalwerk zu verstehen.
Der Film startete bereits am 14. Juli in Japan und konnte seit jeher in vielen weiteren wichtigen Ländern seinen Kinostart feiern; Deutschland gehört hier schließlich zu einem der letzten relevanten Märkte. Eine erste Einschätzung zum internationalen Erfolg des Films ist deshalb bereits möglich. Trotz der riskanten Idee des Produzenten Suzuki, den Film in Japan nur mit einem Filmplakat zu bewerben, wurde dort der beste Kinostart eines Ghibli-Films seit Anbeginn des Studios erzielt. Der Erfolg dortzulande scheint sicher. Der weltweite Bruttoertrag des Films liegt bereits bei über 129 Millionen US-Dollar; zwar noch weit entfernt von den erfolgreichsten Filmen des Studios, doch der finanzielle Erfolg von Miyazakis vorherigem Langfilm, „Wie der Wind sich hebt“, scheint fast erreicht und der Gewinn dürfte durch die sukzessiven Kinostarts weltweit und den kommenden Home-Releases noch weiterhin gut ansteigen. Den Sprung auf die Long List der Oscar-Nominierungen für die Kategorie „Bester Animationsfilm“ hat das Werk bereits geschafft, die Short List wird erst Ende Januar bekannt gegeben; hier hoffe ich zumindest auf eine Nominierung. Ein Gewinn in der Kategorie scheint aufgrund der starken US-amerikanischen Prägung der Oscars sowie der Dominanz von Disney und Pixar leider unwahrscheinlich; wenngleich nicht ganz ausgeschlossen, da der Film direkt nach Kinostart auch in den USA auf Platz 1 der dortigen Kino-Charts landete.

Schon fast beiläufig durchstreifen wir im Film wunderschöne Kulissen
© Kabushiki Kaisha Studio Ghibli
Aber: Wie gut kann sich Der Junge und der Reiher schließlich in das Gesamtwerk des Studios einreihen? Nach dem gemächlichen Anfang des Films offenbart sich im weiteren Verlauf eine reichhaltige Welt mit vielfältigen Charakteren und Ideen, welche an die alten Ghibli-Klassiker erinnern. Meiner Ansicht nach ist Der Junge und der Reiher der beste Film des Studios seit „Das wandelnde Schloss“ von 2004. Seitdem wurden neun abendfüllende Filme veröffentlicht. Darunter befinden sich viele überaus sehenswerte Filme, die jedoch nicht gänzlich an die Erfolge des Studios um die Jahrtausendwende anschließen können. Mit manchen Filmen hat Ghibli seitdem Neues gewagt und Fantastisches geschaffen, jedoch keinen Erfolg beim Publikum erzielt. Hierzu zählt beispielsweise Isao Takahatas letztes Werk „Die Legende der Prinzessin Kaguya“. Viele weitere Filme hatten zwar Erfolg, werden jedoch international nicht den Status eines Klassikers erreichen, darunter beispielsweise „Wie der Wind sich hebt“ von Miyazaki selbst. Der Junge und der Reiher trägt womöglich dieses Potenzial. Dieser Film zeigt, dass Miyazaki trotz seines hohen Alters nicht an Kreativität und Können verloren hat. So reiht sich sein Film wegen des hohen Maßes an Animationsqualität und Kreativität mühelos in die besten Filmen des Studios ein, wenngleich er meiner Ansicht nach nicht ganz die Spitze erreicht; dafür erschien mir das Pacing des Films zeitweise zu unausgewogen und einige übergeordnete Themen wirken nicht konkret greifbar. Diese Kritik schmälert nicht unbedingt die Qualitäten des Films, schränkt aber womöglich seine Massentauglichkeit etwas ein.
Hayao Miyazaki und die kreativen Köpfe des Studio Ghibli haben hier dennoch etwas geschaffen, das nur selten im Kino zu sehen ist. Die von Gewinnorientierung getriebene Maschinerie der Animationsindustrie produziert überwiegend Filme, die Geld einbringen sollen. Der Animationsfilm verkommt zum Massenprodukt, eine Fortsetzung jagt die nächste. Studio Ghibli sträubt sich gegen ein solches Vorgehen. Mit seiner autobiografischen Note und einer Produktionszeit von sieben Jahren erhielt der Film viel Zeit und das persönliche Herzblut, das viele andere Filme vermissen lassen.