Die vierte Wand: Wenn Videospiele ihr eigenes Regelsystem und Konventionen brechen Spezial
Geschrieben von Michael Barg am 07.02.2024
Wie definieren wir eigentlich Videospiele? Für uns finden virtuelle Games üblicherweise in einem digitalen Rahmen auf Spielekonsolen, Handheld-Geräten oder dem PC statt. Was sie gemein haben: Ein digitales System, das uns die Diskussion um ein „korrektes“ Regelwerk, wie es beispielsweise bei Brettspielen der Fall ist, abnimmt. Bei Computerspielen können wir selten unsere Regeln, die wir zuhause gelernt haben, anwenden. Im Gegenteil, denn diese Aufgabe übernimmt der Computer und steckt uns in ein bereits prädestiniertes Regelwerk, dem wir Folge leisten müssen, um das Spiel spielen und genießen zu können. Mods oder dergleichen, die das Regelwerk aushebeln, sind natürlich ausgenommen. Dementsprechend interagieren wir allerdings auch durch dieses gesetzte Regelwerk mit einem Videospiel und sind verwirrt, aber im gleichen Maße auch begeistert, wenn die vierte Wand durchbrochen wird. Das bedeutet also, wenn das Spiel in einer Form mit uns interagiert, die wir nicht dafür vorsehen. Natürlich hören wir bei den Begriffen „vierte Wand“ schon Deadpool an unseren Röhrenfernseher hämmern, dessen Comics damals schon darauf ausgelegt waren, direkt mit dem Leser oder der Leserin zu sprechen. Während es hier in der Regel aber bei Gesprächen oder Kommentaren bleibt, die uns verbal angehen, aber unsere Reaktion nicht fordern, möchte dieses Spezial einige Titel präsentieren, die einen Schritt weitergehen. Das können bestimmte physische Handlungen mit der Spielekonsole sein, oder es wird von euch verlangt, am PC etwas um die Ecke zu denken. In jedem Fall müsst ihr aus dem gesetzten digitalen System ausbrechen und „outside of the box“ denken. Viel Spaß!
1. Psycho Mantis in Metal Gear Solid für die PlayStation 1 (1998)
Den Anfang macht, wie soll es auch anders sein, der Psycho Mantis in Metal Gear Solid 1, welches erstmalig auf der PlayStation 1 im Jahre 1998 das Licht der Welt erblickte. Schon lange wird der Game Designer Hideo Kojima gefeiert und durfte schon früh sein Designer-Talent unter Beweis stellen. Besonders die frühe Metal Gear Solid-Reihe lebt von Kojimas Charme und darf sich über die ein oder andere kreative Idee des Entwicklers freuen.
Wenn wir also darüber sprechen, die vierte Wand zu durchbrechen, ertönt eigentlich immer zuerst der finale Bosskampf von Solid Snake gegen Psycho Mantis. Nicht nur kann der gasmaskentragende Feind eure Memory Card auslesen – und euch damit bloßstellen – sondern auch eure Controllerinputs lesen und dementsprechend handeln. Die „Kontrolle über euren Controller“ wurde darüber hinaus mit der Vibration durch Psycho Mantis ein Stück weit gruseliger. Viele Kinder der späten 90er-Jahre scheiterten wohl kläglich am allwissenden Psycho Mantis, dabei schien die Lösung so einfach wie genial: Damit Psycho Mantis eure Inputs nicht mehr „lesen“ konnte, musstet ihr einfach den PlayStation 1-Controller in den zweiten Port stecken. Natürlich war der Kampf noch nicht gewonnen, jedoch konntet ihr euch dem Allwissenden nun mit euren Waffen stellen und besiegen. Mehr Infos dazu findet ihr auf IGN und im Metal Gear-Fandom.
© Konami / PlayStation
2. The Legend of Zelda: Phantom Hourglass für den Nintendo DS (2007)
Die The Legend of Zelda-Reihe lebt nicht nur von der Rettung Zeldas bzw. Tetras, sondern natürlich auch von allerlei Rätseln, damit ihr in der Geschichte voranschreitet. Phantom Hourglass wich im Jahr 2007 nicht von dieser Formel ab, im Gegenteil, dieser Teil nutzte die exklusiven Funktionen des Nintendo DS, welcher durch das Zuklappen in den Standby-Modus versetzt wird. In The Legend of Zelda: Phantom Hourglass sind natürlich auch Tempel mit von der Partie, besonders der Tempel des Meereskönigs bleibt mit Sicherheit vielen Fans in Erinnerung. Im Spiel müsst ihr, um im Tempel voranzuschreiten, insgesamt drei Lichtgeister sammeln, die euch helfen, Tetra zu befreien. Habt ihr den zweiten Lichtgeist gefunden, geht es zurück zum Tempel des Meereskönigs, um das neue Gebiet zu erkunden. Um hier jedoch weiter voranzuschreiten, sagt das Spiel euch:
Zitat„Presse das Wappen des Mutes gegen die Seekarte, um es zu übertragen.“
Allerdings gibt es hierfür keine Interaktionstaste oder eine In-Game-Möglichkeit, diesem Auftrag Folge zu leisten. Stattdessen verrät euch das Spiel einen ziemlich verwirrenden Tipp:
Zitat„Öffne deine südwestliche Seekarte. Sie sollte wie ein Spiegelbild aussehen. […] dass du die Seekarte auf das Wappen pressen sollst […]“
Damit ihr das Wappen des Mutes also gegen die Seekarte pressen könnt, müsst ihr euer Nintendo DS-Gerät zuklappen und kurz in den Standby-Modus versetzen. Auch wenn dieser Lösungsweg an sich ebenfalls sehr kreativ erscheint, stellt dieser Bruch der vierten Wand eine Ausnahme in der Spielereihe dar und wurde von den Fans augenscheinlich nicht ganz so warm empfangen. Edge of Gaming hat seinen kleinen Leidensweg auf seinem Blog etwas genauer beschrieben, schaut für mehr Kontext also gerne rein. Erfunden hat The Legend of Zelda: Phantom Hourglass das „Stempel“-Konzept allerdings nicht, das Debüt feierte schon Another Code: Two Memories im Jahre 2005 auf dem Nintendo DS.
© Nintendo
3. OneShot für den PC (2016)
Im Indie-Titel OneShot, welcher 2016 für die PC-Plattform Steam erschien, schlüpft ihr in die Rolle von Niko. Der Protagonist muss wieder nach Hause finden, doch dort kommt er nur hin, wenn er eine Lampe zu einem bestimmten Turm auf einer Insel bringt. Wie bei Adventures üblich muss er sich auf seiner Reise verschiedenen Rätseln stellen. Einerseits handelt es sich dabei um simple In-Game-Rätsel, die an sich kein großes Gehirnschmalz erfordern. Ihr findet Items, steckt sie irgendwie zusammen und schreitet so in der Geschichte voran. Allerdings sind nicht alle Rätsel in sich geschlossen im Spiel vorhanden: Da ihr das Spiel im Fenstermodus spielt, öffnen sich hin und wieder Fehlermeldungen eures Computers, die bestimmte Kommentare zu eurem Spiel abgeben. Manchmal müsst ihr aber auch Ordner auf eurem Rechner ausfindig machen und Dateien öffnen, um im Spiel verschiedene Rätsel zu lösen. Bei einer anderen Stelle wird von euch verlangt, dass ihr ein eigens geöffnetes Fenster von Windows über das Fenster von OneShot legt, damit ein begehbarer Weg im Spiel sichtbar wird. Auch wenn ihr hier nicht direkt mit der physischen Realität agiert, wird ein Schritt zwischen euch und dem Spiel, welches durch euren Computer läuft, gelegt. Dieser Einfluss eines Dritten (in dem Fall dem Computer) ist an sich nichts Neues, als integrierte Spielmechanik jedoch auf alle Fälle eine bemerkenswerte Ausnahme. Für eine detaillierte Analyse, schaut gerne bei Pixelbit auf YouTube vorbei, aus dessen Video auch folgender Screenshot stammt.
© Team OneShot / Destructoid
4. Pokémon: Iscalar entwickeln
Dass Pokémon nicht nur durch simples Aufleveln weiterentwickelt werden können, haben schon Pokémon Rote und Blaue Edition aus dem Jahre 1996 gezeigt. Während diese Klassiker allerdings noch ziemlich simple Entwicklungsmethoden auf den Schulhof brachten, wie beispielsweise das Nutzen von Entwicklungssteinen oder Entwicklung durch Tausch, wurden diese Methoden im Laufe der Zeit immer kreativer. In Johto entwickelt sich Evoli nur zu Nachtara, wenn ihr nachts mit dem Pokémon kämpft, in neueren Editionen müssen auch unter anderem bestimmte Eigenschaften im Kampf bestehen, damit sich ein Pokémon weiterentwickelt. Die Entwicklung des Wasser-Pokémon Iscalar aus der sechsten Generation, sprich Pokémon X und Y bzw. Pokémon Omega Rubin und Alpha Saphir, stellt dabei eine Einzigartigkeit dar. Denn sobald das Pokémon Level 30 erreicht, müsst ihr euren Nintendo DS, eure Nintendo Switch oder euer Handy (bei Pokémon Go) auf den Kopf stellen, bevor ihr das Level-up-Fenster überspringt. Nur so entwickelt sich Iscalar zu Calamanero weiter.
© Nintendo / GAME FREAK / Creatures, Bildmontage: © ntower
5. Boktai: The Sun is in Your Hand für den Game Boy Advance (2003/2004)
Die Liste wird von einem der bekanntesten Kojima-Werke angeführt, aber wusstet ihr, dass der ehemalige Star-Entwickler von Konami auch an Boktai: The Sun is in Your Hand für den Game Boy Advance maßgeblich beteiligt war? Das Action-Adventure-Rollenspiel stellt den ersten Eintrag der Boktai-Serie dar und handelt von Django, einem Vampirjäger. Dieser trägt die „Gun Del Sol“ und tritt seinen Gegnern mithilfe des Sonnenlichts gegenüber. Was das Spiel und die Cartridge jedoch so besonders macht, ist der integrierte photometrische Lichtsensor, welcher auf Tageslicht und insbesondere Sonne reagierte. Da die Gun Del Sol nur durch Sonnenlicht aufgeladen werden kann, müsst ihr mit eurem Game Boy Advance ins Sonnenlicht wandern, um die Waffe aufzuladen. Geht eure Munition allerdings aus, solltet ihr euch vor den Feinden in Acht nehmen. Natürlich könnt ihr aber auch nachts spielen, wenn ihr die Sonnenlichtbatterien in der Welt von The Sun is in Your Hand sammelt. Für mehr Informationen zur Entwicklung von Boktai: The Sun is in Your Hand schaut gerne beim Interview mit Kojima vorbei.
© shmuplations / Arstechnica
Honorable Mentions
Die folgenden Titel spielen ebenfalls mit der vierten Wand, ganz so sehr wie die oberen Titel heben sie sich allerdings nicht ab. Doki Doki Literature Club! und OneShot arbeiten mit ähnlichen Konzepten, trotzdem geht OneShot noch einen Schritt weiter und integriert die Konventionen des PCs noch etwas mehr, um die Rätsel lösen zu können.
Conker's Bad Fur Day (Nintendo 64, 2001)
In diesem Action-Adventure für Nintendos erste 3D-Konsole schlüpft ihr in die Rolle des Trunkenbolds Conker, der im finalen Kampf gegen Alie-, natürlich Heinrich kämpfen muss. Habt ihr ihn „besiegt“, simuliert das Nintendo 64-Spiel einen Absturz und Conker wundert sich, warum seine Umgebung plötzlich lahmgelegt wird. Nicht nur rettet ihn das vor dem sicheren Tod, sondern er kann nun auch ein Wörtchen mit den Entwicklerinnen und Entwicklern von Rare wechseln. Conker verrät niemandem etwas über den Absturz des Spiels, solange ihm das Entwicklerstudio aus dem tödlichen Schlamassel hilft. Es folgt eine sehr charmante Szene zwischen dem Entwicklerstudio Rare und Conker. Daraufhin nimmt er auf seinem Siegerthron Platz. Das vollständige Ende findet ihr auf YouTube.
Doki Doki Literature Club! (PC, 2017)
Bei diesem Spiel erwartet euch überwiegend eine recht simple Visual Novel, in welcher ihr als Protagonist in einen Literaturclub eingeladen werdet und dort mit verschiedenen Mitgliederinnen interagiert. Diese könnt ihr üblicherweise kennenlernen und eure Beziehungen festigen. Am Anfang von Doki Doki Literature Club! lest ihr Gedichte, schreibt selbst Texte und nehmt ganz normal am Literaturalltag teil – bis das Spiel eine unerwartete Wendung nimmt. Ohne zu viel ins Detail gehen zu wollen, gibt es verschiedene Enden in der Geschichte, die ihr unter anderem nur durch das kreative Löschen von Spieldateien erreicht. In der Regel müsst ihr die „Charaktere“ entfernen, indem ihr sie in eurem Computer ausfindig macht und in den Papierkorb schmeißt. An einigen Stellen merken die Figuren in Doki Doki Literature Club! an, dass ihnen durchaus bewusst ist, nur eine fiktive Figur in einer Visual Novel zu sein. Durch dieses Machtspiel, das durch das Löschen von Dateien entsteht, weil ihr euch eben über das Spiel hinweg bewegt, stellt Doki Doki eine einzigartige Spieleerfahrung dar – auch für Spielerinnen und Spieler, die mit dem Genre sonst nichts anfangen können.
Eternal Darkness: Sanity’s Requiem (GameCube, 2002)
Mit Eternal Darkness: Sanity’s Requiem veröffentlichte Nintendo ein ziemlich einzigartiges Horror-Abenteuer, das im Jahre 2002 für den GameCube erschien. Dass Horror-Spiele durch die Bildsprache und mit sonst standardisierten Konventionen spielen, um den Thrill an den Spieler oder die Spielerin heranzutragen, ist nichts Neues. In diesem Exklusivtitel funktioniert dies durch das Sanity-System, welches durch verschiedene Halluzinationen oder dergleichen präsentiert werden. Das geschieht entweder visuell durch beispielsweise eine schiefstehende Kamera, aber auch auditiv, wenn furchteinflößende Schreie oder irres Gelächter auf die Ohren dröhnt. Da aber auch dies nur in der Fiktion stattfindet, bleibt der Spieler bzw. die Spielerin eigentlich verschont – der in die Realität übergreifende Effekt entsteht dann durch das Vorgaukeln technischer Fehler. So wird bei Eternal Darkness für kurze Zeit der Sound abgedreht und das Spiel stummgeschaltet, es kommen Warnhinweise, dass der Controller nicht richtig eingesteckt sei, oder es erscheint ein klassischer Bluescreen, wie wir ihn nur von Computern kennen. Somit wird der Wahnsinn, den die Figuren in Eternal Darkness erleben, auch auf die echte Welt übertragen und stellt ebenfalls einen einzigartigen Bruch der vierten Wand dar. Für eine Zusammenstellung aller „Sanity-Effekte“ schaut euch gerne diesen Clip auf YouTube an.
Welche „besonderen“ Spielmechaniken, die mehr als nur die vierte Wand brechen, fallen euch ein? Schreibt sie gerne in die Kommentare!