
Senua's Saga: Hellblade II für den PC im Test – Eine herausragend einzigartige Erfahrung setzt neue Maßstäbe
Geschrieben von Michael Barg am 21.05.2024
Bereits zehn Jahre ist es her, dass wir Senua auf ihrer Reise ins nordische Helheim begleiten durften. Schon damals wurde Hellblade: Senua’s Sacrifice mit Lob überhäuft; nicht nur für das zu dem Zeitpunkt bahnbrechende Aussehen und herausstechende Audiodesign, sondern auch für den sorgfältigen Umgang mit Senuas Psychosen. Diese machten im Jahre 2014 den Kernpunkt des Spiels aus und hatten starke Auswirkungen auf das Gameplay von Ninja Theorys narrativem Abenteuer. Aufbauend auf dem Erfolg des Titels kündigte das britische Studio während der The Game Awards 2019 einen Nachfolger an und betonte in den darauffolgenden Trailern die düstere und immersive Atmosphäre von Senuas Reise. Senua’s Saga: Hellblade II soll dementsprechend noch einen draufsetzen, seinem Vorgänger in nichts nachstehen und nach Microsofts Erwerb von Ninja Theory exklusiv auf den Xbox Series-Geräten sowie dem PC erscheinen. Damit wir den Titel bereits vor Release genauestens unter die dunkle Lupe nehmen konnten, hat uns Microsoft vorab mit einem Testmuster bedient. Warum Senua’s Saga: Hellblade II einen neuen Maßstab der Unterhaltungsmedien setzt, mit Videospiel- und Filmkonventionen Ping-Pong spielt und warum dieser Titel ein unvergessliches Erlebnis für mich darstellt, erfahrt ihr in diesem Bericht.
Die Geschichte von Senua’s Saga: Hellblade II schließt nahezu nahtlos an Hellblade: Senua’s Sacrifice aus 2014 an, daher werfen wir einen kleinen Blick zurück. Senua ist eine keltische Kriegerin, welche von Psychosen geplagt wird. Wie schon bei ihrer Mutter führen diese dazu, dass Senua eine andere Realität als die Bewohnerinnen und Bewohner ihres Dorfes wahrnimmt. Wie im 8. Jahrhundert vermutlich üblich, wurden Psychosen nicht als solche erkannt, sondern damals als Fluch bezeichnet. Das führte dazu, dass Senuas Mutter durch ihren Mann auf dem Scheiterhaufen landete. Da Senua ein ähnliches Schicksal ereignen würde, sperrte ihr Vater sie kurzerhand weg – doch die Stimmen in ihrem Kopf wurden zunehmend lauter und die Halluzinationen zunehmend realistischer.
Nachdem ihr Dorf von blutrünstigen Nordmännern überfallen und ihr Mann Dillion getötet wurde, machte sich Senua auf dem Weg nach Helheim, um ihren Geliebten aus den Fängen der Göttin des Todes Hel zu befreien. Wie schon beschrieben, stellte der Umgang mit den Psychosen das Hauptaugenmerk der Geschichte des Vorgängers dar und beschreibt, wie sich Senua an die Stimmen und die Wahnvorstellungen gewöhnen und diese letztendlich akzeptieren muss. Dementsprechend akzeptiert sie die Realität, in welcher ihr Mann dem Tod übergeben wurde, aber auch die der Halluzinationen und nimmt beide Realitäten auf ihrem weiteren Lebensweg mit.
Zu Beginn von Senua’s Saga: Hellblade II befinden sich diese Stimmen also nach wie vor in Senuas Kopf, als sie von dem isländischen Sklavenhändler Thórgestr auf die keltische Insel gebracht wird. Kurz bevor Thórgestr anlegen kann, wird die Besatzung schiffbrüchig, was Senuas Fluchtversuch bedeutet. Verwundet landet sie am Kiesstrand an einem unbekannten Ort auf Island, bahnt sich ihren Weg durch Schreie des Todes und wehrt sich gegen verwirrende Sprüche der Stimmen in ihrem Kopf. Nach kurzer Zeit kann sie ihre keltischen Kampffertigkeiten gegen einige Besatzungsmitglieder und schließlich gegen Thórgestr unter Beweis stellen.
Nachdem sie Thórgestr besiegt, nimmt sie ihn gefangen und wird von ihm in ein nahegelegenes Dorf geleitet, wo Senua erstmalig mit ihrer jüngsten Vergangenheit konfrontiert wird. Denn wie ihr von Nordmännern überranntes Dorf, scheinen auch auf Island blutrünstige Wesen ihr Unwesen zu treiben. Diese Wesen werden Draugr genannt, die ebenfalls der altnordischen Saga entstammen und an Untote erinnern. Kurz danach wird klar, dass das Land nicht nur von den Draugr heimgesucht wird, sondern auch von verschiedenen Riesen, die das Leben der Menschen gefährden. Nun liegt es an Senua und ihren Gefährten, die sich ihr auf ihrer Reise anschließen, die Geheimnisse des Island aus dem zehnten Jahrhundert zu lüften.
Da Senua’s Saga: Hellblade II besonders durch seine Story glänzt, möchte ich nicht zu viel verraten, euch jedoch zumindest einen kleinen Vorgeschmack liefern. Wie schon beim Vorgänger dreht sich nahezu alles um die Geschichte, das Narrativ, die Charaktere und die Immersion in Senuas Abenteuer. Die Story an sich ist durch ihren anhaltenden altnordischen Touch, welcher sich nun um Island dreht, spannend inszeniert und hält euch bis zur letzten inneren Stimme von Senua an der Stange. Zwar ist diese schwierig zu greifen, sofern ihr den Vorgänger nicht kennt – der fünfminütige Prolog hilft da auch nur wenig. Trotzdem glänzt Senua’s Saga: Hellblade II mit seiner realistischen Welt und vor allem mit Senuas persönlicher Entwicklung.
Während sie im ersten Teil lernt, ihre Psychosen als Teil von sich zu akzeptieren, lernt sie im zweiten Teil, mit ihnen umzugehen. Die Psychosen zeichnen sich dadurch aus, dass Senua nur noch wenig klar denken kann, weil besonders zwei Stimmen in ihrem Kopf, die Furien, nahezu durchgängig dazwischenfunken. Manchmal wirkt es so, als hätte Senua Engel und Teufel auf der Schulter, ermutigen sie Senua nämlich in einem Moment, im nächsten wird ihr Selbstbewusstsein wieder mit Füßen getreten. Für so viel Verwirrung wie es im ersten Teil sorgen die Stimmen dieses Mal nicht, sondern lösen stattdessen anhaltend einen inneren Konflikt aus, der einen starken, aber trotzdem vergleichsweise anderen Einfluss auf die Realität hat. Während das Gameplay und die Feinde im ersten Teil vor allem durch Verwirrung und falsche Informationen beeinflusst wurden, werden im zweiten Teil besonders die Sichtweisen und ethischen Hintergründe vermischt. Das sorgt im Gesamtpaket dafür, dass ihr als Spielerin oder Spieler einerseits nicht so recht glauben wollt, was diese Stimmen und Senua von sich geben, andererseits versucht ihr euch die Realität durch äußere Einflüsse und das, was ihr seht, zu erklären.
Anders als in „gängigen“ Videospielen findet ihr euch also nicht unbedingt in Senua wieder, sondern gleicht ständig die möglichen Realitäten und „Wahrheiten“ ab, die euch Senua’s Saga: Hellblade II präsentiert. Das wird auch durch die Kameraführung suggeriert: Diese schaut sich sehr viel vom Medium Film ab, muss im gleichen Zug aber „interaktives Videospiel“ ausdrücken. Diese Dissonanz sorgt damit für ein wirklich einzigartiges Spielerlebnis, das nicht nur glühendes Interesse an Psychosen und der virtuellen Welt, sondern auch ein unvergleichbares Gefühl von Unbehagen in euch auslöst. Nicht selten habe ich eine gewisse Furcht in mir entdeckt, als ich die wunderschönen grünen Gefilde von Island erkundete – allerdings konnte ich selten identifizieren, warum ich dieses Gefühl nun habe. Diese Darstellung einer Psychose in einem interaktiven Medium scheint bis dato unerreicht und stellt für mich eine der intensivsten Erfahrungen dar, die ich je machen durfte.
Ich beschreibe Senua’s Saga: Hellblade II bewusst eher als Erfahrung. Der Definition eines Videospiels wird Senuas neues Abenteuer nicht gerecht, einem interaktiven Film á la Until Dawn aber irgendwie auch nicht. Der erste Teil hatte bereits vergleichsweise wenige Gameplay-Elemente, Hellblade II setzt sogar noch einen drauf (oder nimmt etwas weg?) und möchte die Geschichte mit weniger Interaktionsmöglichkeiten erklären. Zwar wurde das Kampfsystem im Grunde übernommen und auch die „Rätsel“ muss Senua erneut lösen, beide Elemente kommen aber noch magerer daher und sind nur wenig fordernd. Kämpfe finden immer mal wieder statt, machen aber eher nur einen kleinen Teil aus; von den Rätselpassagen gibt es ebenfalls nur eine Handvoll.
So genau kann ich natürlich nicht beantworten, wo sich Senua's Saga: Hellblade II einordnen lässt, aber je weniger Interaktionsmöglichkeiten im Spiel bestehen, desto mehr inszenatorische Möglichkeiten bekommt Ninja Theory an die Hand. Das führt letztendlich dazu, dass sich jeder Moment, jeder Frame, jede Sequenz wie eine Art Spielfilm anfühlt – aber irgendwie doch nicht. Kein Spiel, kein interaktiver Film und keine interaktive Erfahrung kam jemals so nah an spielerischen Realismus heran, wie Senua’s Saga: Hellblade II. „Cutscenes“ wie wir sie kennen, gibt es nicht – das gesamte Spiel ist nach wie vor eine interaktive Reise und richtet sich somit an eine bestimmte Art von Publikum. Viel Entscheidungsfreiheit habt ihr nicht, die Story ist gesetzt und ihr könnt sehr wenig interagieren. Ihr könnt euch zurücklehnen, dürft den Controller aber trotzdem nicht auf Seite legen. Oft erwischt ihr euch dabei, für einige Minuten nur durch die lineare Gegend zu streifen und von den Stimmen geplagt zu werden. Hin und wieder werdet ihr für die Erkundung belohnt und schaltet einige Hintergrundinformationen frei, ganz spannend wird die Exploration allerdings nie. Diese gameplayarme Mischung kann manche Spielerinnen und Spieler eventuell abschrecken, sogar nervtötend sein, und der eigenen Vorstellung eines Spiels nicht gerecht werden. Durch die realistische Grafik habe ich mich aber gerne zurückgelehnt, zugeschaut und die Umgebung mit offenem Mund bestaunt.
Ihr solltet genau hinschauen und zuhören: Zur einzigartig herausstechenden Erfahrung zählt nicht nur das unvergleichbare visuelle Auftreten, sondern auch das wahnsinnig detaillierte Audiodesign. Obwohl das Entwicklerstudio bereits im Vorfeld einige Details über ihre Audioaufnahmen und ihr Design verraten hat, habe ich noch nie so einen Grad an Immersion gehört wie bei der Arbeit von Ninja Theory. Daher nehmt euch bitte den Ratschlag von Dom Matthews (Studio Head von Ninja Theory) zu Herzen: Spielt Senua’s Saga: Hellblade II mit (Vollohr-)Kopfhörern. Nur so kommt ihr in den Genuss von schwerfallenden Wassertropfen, zarten Winden und den Stimmen in eurem Kopf, die in 360 Grad um euch herumwandern und das sensationelle 3D-Audio präsentieren. Auch die brutale Gewalt, die das Spiel im Gepäck hat, wirkt dadurch deutlich intensiver und nimmt euch vollumfänglich ein.
Und damit möchte ich auch eine Warnung aussprechen: Senuas Reise stellt nicht nur psychische Gewalt dar und kann damit besorgniserregendes Unbehagen in euch auslösen; durch seinen Realismus ist der visuelle Inhalt ebenfalls nichts für schwache Nerven. Im Einklang mit dem Audiodesign sind die Kämpfe teilweise unheimlich brutal und können insbesondere in diesen Situationen sehr viel Stress auslösen. Daher überlegt euch bitte vorher, ob ihr euch dieser Erfahrung aussetzen könnt oder möchtet.

Die Kämpfe strotzen nur so von Realismus, aber beinhalten dafür lediglich eingeschränktes Gameplay
© Ninja Theory
Sofern ihr jedoch die Kapazitäten dafür habt und der Zielgruppe entsprecht, begegnet euch ein Meilenstein der Unterhaltungsindustrie, der darüber hinaus auf interessante und eigene Weise über Psychosen aufklärt. In Zusammenarbeit mit den Betroffenen Eddy und Kathy präsentiert Ninja Theory eine realistische Abbildung von Psychosen, um nicht nur eine herzzerreißende Geschichte zu erzählen, sondern auch die Möglichkeit zu bieten, Psychosen zu erleben und fühlen zu können. Um diese Erfahrung fundierter darzustellen, wurde das Studio ebenfalls von Neurowissenschaftler Paul Fletcher unterstützt, welcher an der Universität Cambridge tätig ist.
Zu guter Letzt kann ich meine Lobeshymne mit positiven Erfahrungen hinsichtlich des technischen Zustandes abschließen. Trotz des wahnsinnig guten Aussehens scheint Senua’s Saga: Hellblade II ein fantastisch optimiertes Erlebnis zu sein, welches auf meinem Gerät für keinerlei Probleme sorgte. Sowohl auf hohen und mittleren Grafikeinstellungen sieht der Titel unvergleichlich gut aus und setzt ebenfalls Grafikmaßstäbe – aber auch auf niedrigen Einstellungen kann sich Senua’s Saga: Hellblade II sehen lassen. Da der Titel hochprofessionell und mit viel Raffinesse im Audiodesign produziert wurde, gibt es leider nur eine englische Vertonung. Hin und wieder purzeln aber gleich drei Stimmen gleichzeitig über euer Trommelfell, sodass sich die Untertitel in die Queere kommen – das kann natürlich Absicht sein, um die verwirrende Psychose darzustellen, trotzdem solltet ihr euch dem bewusst sein. Insgesamt kostet euch Senua's Saga: Hellblade II zu Release 49,99 Euro und verlangt beim ersten Durchlauf ungefähr sieben Stunden von euch. Möchtet ihr nur mal reinschnuppern und schauen, ob euch diese Art Spiel gefällt, könnt ihr ebenfalls am Releasetag mithilfe des Xbox Game Pass auf dem PC oder auf den Xbox-Geräten reinschauen.
Falls euch das Thema von filmischen Spielen interessiert und ihr gerne mehr darüber erfahren möchtet, haben wir vor etwa genau zwei Jahren bereits ein Spezial zu dem Thema verfasst. Nicht nur durch den steigenden Grad an Realismus, sondern auch durch die vielen Interaktionsmöglichkeiten stellt das Videospiel stellt eine ganz eigene Art des Geschichtenerzählens dar. Unser Spezial „Das etwas eigene Storytelling der Videospiele“ findet ihr hier.