© 1992/2022 Miguelanxo Prado / Norma Editorial / Cross Cult

Kreidestriche in unserer Comic-Rezension

Immer wieder beweisen Comics und Graphic Novels, dass sie weit mehr als nur einfache Unterhaltungskost sind. Dank Cross Cult hat es nun „Kreidestriche“, ein gefeiertes Werk der spanischen Comic-Szene, von Miguelanxo Prado in Form einer neuen Ausgabe abermals nach Deutschland geschafft. Wieso gerade diese Ausgabe in keiner Comic- und Graphic-Novel-Sammlung fehlen sollte, gibt es in diesem Bericht zu lesen.


Wer sich mit dem Thema sexuellen Missbrauch unwohl fühlt, sollte diese Rezension und den zugehörigen Comic überspringen. Wir lesen uns dann an anderer Stelle wieder.


Kreidestriche erschien erstmals 1992 in den spanischen Zeitschriften Cimoc und À Suivre. Ein Jahr später publizierte Norma Editorial den Comic als Gesamtausgabe. Verfasst und illustriert wurde dieses Werk dabei von Miguelanxo Prado, der zu einem der wichtigsten spanischen Comic-Zeichner seiner Generation zählt und mit verschiedenen Preisen, wie dem deutschen Max-und-Moritz-Preis für „Der tägliche Wahn“ im Jahre 1990, ausgezeichnet wurde.


Diese bildgewaltige Geschichte lässt mehr Fragen offen, als sie beantwortet

© 1992/2022 Miguelanxo Prado / Norma Editorial / Cross Cult

Raùl landet nach einem Seesturm mit seinem Boot vor einer kleinen Insel mitten im Meer. Kurioserweise ist diese Insel auf keiner Karte verzeichnet und wirkt mit seinem einzelnen funktionsunfähigen Leuchtturm isoliert und einsam. Als er dort an einem viel zu langen Pier anlegt, lernt er die beiden Bewohner der Insel kennen: Sara und ihren Sohn. Raùl ist jedoch nicht die einzige Person, die auf dieser ruhigen, malerischen Insel gelandet ist, denn auch eine blondhaarige Frau hat sich eine Zeit lang dort einquartiert, während sie sehnsüchtig auf jemanden wartet.


Die Geschichte von Kreidestriche ist zu Beginn sehr ruhig. Zunächst lädt das idyllische Bild dieser einsamen Insel mit emporragendem Leuchtturm zum Verweilen ein. Sara, die als einzige vor Ort mit ihrem erwachsenen Sohn lebt, betreibt nicht nur die Kneipe, sondern bietet auch die Möglichkeit, bei ihr einzukaufen oder auch ein Zimmer zu mieten. Sie und Raùl sind jedoch nicht auf einer Wellenlänge und wirken zueinander sehr distanziert. Die blondhaarige Frau, Ana, wirkt im Vergleich zur doch recht grob wirkenden Sara modern, gebildet und unnahbar. Raùl fühlt sich direkt zu ihr hingezogen, schafft es aber nicht, sich ihr wirklich zu nähern, weil er sich entweder zu viele Gedanken macht oder Sara ihn abwehrt, da sie auf eine bestimmte Person wartet.


Die Idylle dieser Insel wird immer wieder gestört. Saras Sohn macht Jagd auf Möwen, deren Kadaver Raùl immer wieder findet, und als dann ein drittes Boot ankert, nimmt die eigentlich ruhige Geschichte, in der bislang „nichts“ geschehen ist, eine dramatische Wende. Laut Sara ist es ein böses Omen, wenn drei Boote auf der Insel ankommen. Die Ereignisse, die darauf folgen, sind wirr, gewalttätig und entfremdend, was einen düsteren Schatten auf die bisherigen Eindrücke, die ihr als Lesende von der Insel gewonnen habt, wirft.


Das wohl Beeindruckendste an diesem Werk ist nicht die Handlung, sondern die akribisch angefertigten Illustrationen von Miguelanxo Prado. Jedes einzelne Bild, das in Kreidestriche zu sehen ist, zieht einen wie ein eigenes Kunstwerk in seinen Bann. Dabei hat sich der Künstler für sehr intensive Farben entschieden, die einerseits wunderschön und einnehmend, aber manchmal auch erdrückend und einschüchternd wirken. Dabei spart Prado nicht an Details. Egal, welches der Panels man auch ansieht, verschiedene Details schmücken die Szene und erlauben, sich in dieser Geschichte zu verlieren. Besonders hervorzuheben ist die glaubhafte Mimik der Charaktere, die im direkten Kontrast zur eigentlich harmonisch wirkenden Umgebung steht. Durch das Spiel mit düsteren und hellen Farben gelingt es Prado problemlos, die gewünschten Stimmungen einzufangen und zu vermitteln, ohne sich auf viel Text verlassen zu müssen. Die Handlung, die vielseitigen und detailreichen Bilder und das Ende des Comics lassen verschiedene Interpretationsansätze zu, die zum Diskutieren oder nochmaligem Lesen anregen.


Neben dem eigentlichen Comic ist in dieser Ausgabe auch eine Galerie enthalten, die unter anderem die Entstehung des spanischen Originalcovers, aber auch die Entwicklung einzelner Panels und Stripes skizziert. Zusätzlich gibt es weitere Illustrationen zu sehen, die ganze Seiten ausfüllen und zu einem weiteren Genuss des künstlerischen Werks Prados einladen. Dabei findet ihr auch Momentaufnahmen vor, die es nicht in die finale Ausgabe geschafft haben. Außerdem wurden im Sinne von alternativen Ereignissen auch Illustrationen angefertigt, die die Charaktere in Situationen zeigen, die so nicht zustande kommen konnten. Allerlei zusätzliche Informationen und Einordnungen runden das Erlebnis gelungen ab.


Cross Cult spendierte dieser neuen Ausgabe von Kreidestriche eine hochwertige Aufmachung in Form eines Großformats mit Hardcover und überzeugender Papier- und Druckqualität. In meinen Augen wird sie der intensiven Arbeit, die damals in jedes der Bilder geflossen sein muss, gerecht und schafft so einen zeitlosen Genuss für Liebhaber des Mediums.


Kreidestriche ist erschienen bei Cross Cult:

  • ISBN: 978-3-986664-94-7
  • 104 Seiten, farbig
  • 21,3 x 28,5 cm
  • Hardcover
  • 22,00 Euro

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