
Der verkehrte Himmel in unserer Graphic-Novel-Rezension
Geschrieben von Dennis Gröschke am 06.12.2024
„Was für eine Betonhitze! Inmitten des flirrenden Berliner Sommers machen die Geschwister Tâm und Dennis einen beunruhigenden Fund. In einem Gebüsch am Rande ihrer verschlafenen Wohnsiedlung in Berlin-Lichtenberg entdecken sie einen einzelnen abgetrennten Finger. Im Laufe ihrer Nachforschungen kommt es zu einer verstörenden Begegnung mit einem geheimnisvollen Mädchen: Das ,Mädchen vom Parkplatz‘ ist die zwei Jahre ältere Hoa Binh und sie ist auf der Flucht. Aber auf der Flucht vor wem? Ohne zu ahnen, auf was sie sich eingelassen hat, beschließt Tâm, ihr zu helfen.“
Im Zentrum der im schwarz-weißen Manga-Stil in Szene gesetzten Geschichte steht das Geschwisterpaar Dennis und Tâm, Kinder von vietnamesischen Einwanderern. Dennis ist ein Teenie, Metal-Fan mit Leib und Seele und verbringt seine Tage damit, seiner kickboxenden Mitschülerin Marina aus dem Weg zu gehen, die ein Auge auf ihn geworfen hat. Tâm ist seine kleine Schwester und ein pre-pubertierendes Energiebündel. Die beiden stoßen auf Hoa Binh, eine junge Frau aus Vietnam, die auf der Flucht vor Menschenhändlern ist. Denn bevor es zu dem ominösen Fund des abgetrennten Fingers kam, sind die beiden Geschwister Hoa Binh schon einmal auf einem Parkplatz in Polen begegnet. Dort wurde sie in einem Pkw festgehalten und konnte mit Dennis und Tâm ein Beil gegen Bezahlung eintauschen, um sich aus dem Fahrzeug zu befreien. Ein Platzregen trennte die beiden Parteien, ohne dass die Geschwister mitbekamen, wie es Hoa Binh weiter ergeht. Dass nun die junge Frau aus Vietnam kurze Zeit später in ihrem Wohnbezirk auftaucht, macht die Geschichte nur umso skurriler.
Da in Deutschland nur die wenigsten Zeichnerinnen und Zeichner von ihren Comicgeschichten allein leben können, dürfte niemanden verwundern, dass Mikael Ross beispielsweise Aushilfslehrer im Berliner Brennpunktstadtteil Lichtenberg war. Dieser Stadtteil ist neben Plattenbau-Skylines und Schrebergärten durch eine große vietnamesische Exil-Community geprägt, von der viele der ersten Generationen als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter in die DDR eingewandert sind. Lichtenberg ist auch immer wieder als Umschlagort für Menschenhandel in den Schlagzeilen, im Mittelpunkt steht oft das Dong Xuan Center in Lichtenberg, Deutschlands größter Asia-Markt.
Es verwundert also nicht, dass die Geschichte von „Der verkehrte Himmel“ in Lichtenberg angesiedelt wurde. Tâm hat sich nach der ersten Begegnung mit Hoa Binh und dem anschließenden überraschenden Wiedersehen in Lichtenberg in den Kopf gesetzt, der jungen Frau auf der Flucht zu helfen. Denn auch wenn die Inszenierung in weiten Strecken eher leichtfüßig daherkommt, steckt mit dem Thema Menschenhandel ein ernster Kern hinter der Geschichte. Neben Dennis, Tâm und Hoa Binh spielen einige weitere Charaktere wichtige Rollen in dieser Mischung aus Coming-of-Age, Identitätssuche und Freiheitswillen. Dabei spielt sich der Plot nicht zu einer überhöhten Erzählung auf, die in einem riesigen Finale kulminiert, sondern erzählt durchgängig, aber immer spannend von einigen Tagen aus dem Leben der Protagonisten.
Hier werden nebenbei eine Milieu-Studie und ein Sozialdrama abgeliefert, was mich über weite Strecken an die Seiten gefesselt hat. Nicht nur waren mir die Umstände in Berlin Lichtenberg unbekannt, auch den Alltag und die Schwierigkeiten von Viet-Deutschen reißt Ross in seiner Erzählung an und webt diese Strukturen gekonnt ein. Neben der Biografie-Graphic-Novel zu George Lucas und dem Mammutwerk „Ginsengwurzeln“ von Craig Thompson zählt die Lektüre von „Der verkehrte Himmel“ von Mikael Ross zu meinen absoluten Highlights dieses Jahr. Ross schaffte es, mich von Anfang bis Ende zu fesseln und hielt mich gedanklich im Buch, auch wenn ich thematisch nicht ferner von den Inhalten entfernt sein könnte. Eine klare Empfehlung für diese kleine Milieu-Studie mit ihren scheinbar aus dem Leben gegriffenen Charakteren, ihren Problemen und Nöten.
Wenn ihr euch vom Artwork ein Bild machen wollt, könnt ihr gerne auf der Website des Verlags hier ein paar Impressionen gewinnen.
Der verkehrte Himmel ist erschienen im avant-Verlag:
- ISBN: 978-3-96445-108-8
- 344 Seiten
- Softcover
- 17 x 24 cm
- schwarz-weiß
- 28,00 Euro
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