Der Sprung in die Freiheit – wie Super Mario 64 die Welt der Videospiele revolutionierte Kommentar Spezial
Geschrieben von Roman Dichter am 23.01.2020
Was empfinden junge Spieler heute wohl, wenn sie erstmals mit dem Spiel Super Mario 64 in Berührung kommen? Vielleicht fällt ihre Einschätzung ganz nüchtern aus: Es ist einfach ein altes Spiel. Ich gehöre allerdings einer anderen Generation an. Meine Generation spielte noch mit dem Game Boy und dem SNES – lange bevor die Spiele-Welt durch 3D-Grafiken und 3D-Gameplay revolutioniert wurde. Der Tag, an dem sich meine Welt auf den Kopf stellte, lag im Jahr 1996. Es muss Juni oder Juli gewesen sein (genau weiß ich es nicht mehr), kurz nach Release des Nintendo 64 in Japan. Da die deutsche Version der Konsole erst im März 1997 erschienen ist, verkürzte ich mir nämlich die Wartezeit einfach mit einer Import-Version. Trotz bereits damals mehrjähriger Erfahrungen als Videospieler lernte ich an diesem Tag mein Hobby komplett neu kennen. Keine andere Konsole konnte dies vorher oder nachher auch nur ansatzweise schaffen, so groß war die 3D-Revolution, die durch den Starttitel Super Mario 64 eingeläutet wurde.
Heute fühlen sich 3D-Titel ganz natürlich und selbstverständlich an, doch damals war es eine Neuheit. Wie so oft, wenn wir von technologischen Entwicklungen sprechen, kann man fairerweise sagen, dass es Vorläufer auch schon zu früheren Zeiten gab. Das Super Nintendo ermöglichte durch zusätzliche Chips in den Spiele-Modulen bereits 3D-Grafiken. Auch der Analog-Stick, der auf dem Nintendo 64-Controller das Fortbewegen in dreidimensionalen Welten extrem vereinfachte und präzisierte, war der Welt nicht völlig unbekannt. Doch Nintendo integrierte ihn erstmals in den Standard-Controller einer Konsole und setzte damit einen Standard, der in Windeseile von der Konkurrenz aufgegriffen wurde – der ursprüngliche Controller der ersten PlayStation konnte noch nicht mit einem solchen Stick dienen. Diese und andere Standards wie die Vibrationsfunktion des Controllers wurden durch das Nintendo 64 geprägt und sind bis heute Standards in der gesamten Branche.
Doch so begeisternd Hardware auch sein kann, die wahre Faszination entstand daraus, wie Spiele diese Hardware nutzten. So war Super Mario 64 in vielerlei Hinsicht revolutionär. Der erste Hingucker war natürlich die 3D-Grafik, zusammengesetzt aus Polygonen, die ein völlig anderes Bild des Klempners auf den Bildschirm zauberten, als wir es von den typischen 2D-Abenteuern kannten. Dieser wahnsinnige Sprung der grafischen Darstellung ist es, der mich heutzutage bei praktisch jeder neu angekündigten Konsole nur müde lächeln lässt. Wenn anderen bei den neuesten Konsolen von Nintendo, Microsoft oder Sony die Kinnlade runterklappt, sehe ich nur noch leichte kosmetische Verbesserungen von Standards, die auf dem Nintendo 64 begonnen haben. Und wenn andere die N64-Grafik als schlecht gealtert bezeichnen, dann frage ich mich, wie man darauf kommen kann. In den Grundzügen gibt es all das, was auch heute auf der Nintendo Switch möglich ist – und das ist mehr als genug, um Spielspaß zu erzeugen.
Dieser entsteht aber (auch diese Erkenntnis ist nicht ganz neu) selten nur durch die Grafik. Auch Super Mario 64 begeisterte in erster Linie durch das Gameplay. Dieses Spiel begründete ein damals komplett neues Genre, das 3D-Jump ‘n‘ Run! Die erste Faszination ergab sich durch die bis dato ungekannte Bewegungsfreiheit. Dies wussten auch die Entwickler rund um Mastermind Shigeru Miyamoto und spendierten dem Abenteuer einen faszinierenden Start, der aus heutiger Sicht geradezu unspektakulär wirkt: Mario erkundet den Schlossgarten! Das kleine Fleckchen Land wirkt eigentlich nicht sehr spannend. Hier und da steht ein Bäumchen herum, und Gegner sind noch nicht in Sicht. Doch damals kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus. Der Analog-Stick ermöglichte Bewegungen in alle Richtungen. Mario vollführte Sprünge, Doppelsprünge, Dreifachsprünge und landete auf einem Bäumchen, das er daraufhin erklomm und mit einem Handstand auf der Spitze beehrte – nur, um in der nächsten Sekunde von dort aus in einem großen Bogen auf den Boden zu hüpfen und das wilde Umhertollen fortzusetzen.
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich einfach im Garten gespielt habe, bevor ich mich überhaupt der ersten Aufgabe widmete, aber ich hatte riesigen Spaß mich einfach in der neuen Bewegungsfreiheit zu verlieren. Diese Freiheit verdeutlichte Mario uns meisterhaft. Nicht nur seine vielfältigen Sprung-Varianten schienen alles Vorstellbare möglich zu machen, er konnte auch schwimmen, tauchen und sogar fliegen – alles in ungekannter dreidimensionaler Bewegungsfreiheit. Als Spieler hatte ich nicht mehr das Gefühl, einer starren Regie zu folgen, um die sehr begrenzten Möglichkeiten einzusetzen, sondern ich selbst fühlte mich wie der Regisseur des Abenteuers. Passenderweise lernte ich schon zu Beginn den Kameramann kennen: Lakitu. Auf einer Wolke schwebend kennen wir diese Figur auch schon aus anderen Mario-Titeln, doch hier symbolisierte er die freischwebende Kamera, die vom Spieler durch die C-Knöpfe bewegt werden konnte. Dass all dies zum Erlebnis wurde, verdanken wir nicht nur der angesprochenen Grafik, sondern auch dem Sound. Der Schauspieler Charles Martinet verlieh Mario erstmals seine Stimme, die heute bei keinem Mario-Spiel mehr fehlen darf. Einfache Ausrufe wie „Yippiiiiiieh!“ während der Sprünge des Protagonisten transportierten genau dieses Freiheitsgefühl, das die Spieler empfanden.
Neben der Bewegungsfreiheit beeindruckte Mario besonders durch die Handlungsfreiheit. Mit einigen Einschränkungen war es dem Spieler überlassen, ob er jetzt eine Schneewelt, eine Lava-Welt oder ein anderes Level durch die symbolischen Bilder an den Wänden des Schlosses betreten wollte, in denen sich das Abenteuer abspielt. Doch damit nicht genug: Jedes Level lieferte mehrere Sterne, die es zu finden galt. Auch hier musste der Spieler sich nicht sklavisch an eine Reihenfolge halten, sondern durfte die Welt relativ frei erkunden. Das war der krasse Gegenentwurf zum typischen 2D-Mario, in dem Level für Level nacheinander abgearbeitet wurde. Auch die Aufgaben gewannen in der neuen 3D-Welt ein riesiges Maß an Abwechslung und Kreativität hinzu. Früher war es vergleichsweise eintönig: Mario startet links im Level und kämpft sich so lange durch die Stage, bis er das Ziel am rechten Rand erreicht hat. Dagegen lieferten die Sterne in Super Mario 64 Potenzial für viel mehr Ideen als einfach nur dorthin zu gelangen. Gegner forderten ihn zum Wettrennen heraus, wobei Mario dank der 3D-Welten auch geschickt nach Abkürzungen Ausschau halten konnte. Klassische Kämpfe gegen Bossgegner waren natürlich auch dabei, allerdings neben Sammel- und Suchaufgaben, Rutsch-Partien oder Hilfeleistungen, wie einer Pinguin-Mama das verschwundene Baby zurückzubringen.
All diese Freiheiten in diesem komplett neuen Genre auf der revolutionären Konsole wurden von der Spielewelt mit Begeisterung aufgenommen. Videospiel-Magazine vergaben Traumnoten, unter vielen Spielern gilt Super Mario 64 bis heute zu den besten Spielen aller Zeiten und die Spiele-Hersteller wurden nachhaltig von Nintendos Titel inspiriert. Besonders auf dem Nintendo 64 selbst lieferte Mario nur den Startschuss für eine ganze Reihe von 3D-Jump ‘n‘ Runs. Wenige reichten an die Brillanz des Originals heran, doch einige konnten sich ebenfalls einen Platz in den Geschichtsbüchern sichern. Besonders die Entwickler von Rare, die damals noch exklusiv für Nintendo tätig waren, erschufen mit Spielen wie Donkey Kong 64, Banjo-Kazooie und Conker's Bad Fur Day zahlreiche Klassiker, die von dem Klempner mit der roten Mütze inspiriert wurden.
Was Super Mario 64 auf dem Nintendo 64 geschaffen hat, wird heute manchmal als unscheinbar und selbstverständlich wahrgenommen. Doch wer die damalige Zeit miterlebt hat, weiß seine Bedeutung für die gesamte Branche zu würdigen und kann sie gar nicht hoch genug bewundern. Dieses Meisterwerk hat auch einen Platz in meinem Herzen und ich wünsche mir, dass es auch in Zukunft in neuen Umsetzungen weiterleben wird. Eine aufgepeppte Version des Originals für Nintendo Switch würde mich weit mehr begeistern als eine der zahlreichen Wii U-Neuauflagen von Spielen, die erst wenige Jahre alt sind. Am meisten würde ich mir aber eine komplett neue Fortsetzung im klassischen Super Mario 64-Stil wünschen. Super Mario Odyssey kommt schon nahe heran, hat sich aber doch von einigen Aspekten verabschiedet, die Super Mario 64 so genial machten. Insbesondere sind die Odyssey-Monde so zahlreich in der Welt verteilt, dass sie nicht mehr so besonders sind wie die klassischen Sterne. Bei Super Mario 64 habe ich mich über jeden der 120 Sterne gefreut, fast immer steckte dahinter eine Leistung, die aus den Sternen eine echte Belohnung machte. Man kann mit alten Konzepten sicher keine neue Revolution beginnen, aber der erste 3D-Auftritt von Mario konnte in so vielen Bereichen überzeugen, dass er auch heute noch zu begeistern weiß. Wie auch immer die nächsten Abenteuer des japanischen Italieners aussehen werden – Millionen Spieler auf der Welt werden ihn immer lieben, und das nicht zuletzt wegen des revolutionären Super Mario 64!
Berichtsbild: © Nintendo