Sind Videospiele Kunst? Spezial
Geschrieben von Florian McHugh am 05.07.2020
Innerhalb des Hobbykreises der Computer- und Videospiele gibt es eine Menge existenzieller Fragen, welche die einzelnen Fan- und Spielerkreise seit jeher beschäftigen: Welches ist die beste Konsole? Kann man Ego-Shooter ernsthaft mit einem Controller spielen? Welchen Publisher kann die Community am wenigsten ausstehen? Nvidia oder AMD? Während all diese Fragen mal mehr, mal weniger an Aktualität gewinnen, gibt es eine Fragestellung, die sich bereits seit Jahrzehnten recht konstant an der Oberfläche hält und immer wieder aufgeworfen wird; eine Frage, die bis heute nicht zur vollsten Zufriedenheit beantwortet werden konnte: Sind Videospiele Kunst? Natürlich möchte jeder, auch meine Wenigkeit, im ersten impulsiven Moment „Aber natürlich, das steht doch außer Frage!“ rufen, es gibt jedoch auch gegensätzliche Meinungen, die dem Medium der Videospiele diese Einteilung verwehren. In diesem Spezial möchte ich der Frage nachgehen, was dagegen und was dafür spricht, dass Videospiele als Kunst angesehen werden, und wieso das überhaupt unglaublich wichtig zu sein scheint.
Dass die meisten von uns instinktiv bejahen würden, dass Videospiele durchaus Kunst sind, liegt wahrscheinlich daran, dass man bei Kunst erst einmal vom rein kreativen Prozess ausgeht. Jemand erschafft etwas und nutzt dafür seine eigene Kreativität, das Ergebnis ist Kunst. Und daher liegt es ja vollkommen auf der Hand: Die Spieleentwicklung an sich ist ein mehr als kreativer Prozess, bei dem Welten geschaffen, Charaktere ausgedacht und allerlei Ideen verwirklicht werden. Doch ganz so einfach ist es dann eben doch nicht, denn was den Kunstbegriff vieler Experten angeht, unterscheidet sich dieser in einem ganz wichtigen Punkt: In diesem Fall ist Kunst nämlich ein Gegenstand passiver Beobachtung und kein erfahrbarer Inhalt, wie es bei Videospielen der Fall ist. Während man ein Gemälde, ein Musikstück oder auch einen Film, die ja mitunter auch als Kunst gelten, einfach auf sich wirken lassen kann, ist das bei einem PC- oder Videospiel selten der Fall. Selbst die ruhigen und eher passiven Vertreter wie Dear Esther oder auch Visual Novels erfordern bis zu einem gewissen Grad unsere Aktivität und verhindern, dass wir die Erfahrung des Spiels komplett passiv auf uns wirken lassen können.
Da haben wir es also. Videospiele sind doch keine Kunst, zu blöd, oder? Auch hier ist es wieder nicht ganz so leicht, denn Definitionen wie die Obige sind zwar recht gängig, es lassen sich aber auch genügend andere Meinungen finden. Um ein wenig mehr Klarheit zu schaffen, bedienen wir uns einer anderen Quelle und lassen diese Frage mal die Justiz klären. Denn von der rein rechtlichen Seite ist relativ klar geregelt, was Kunst ist und was nicht. Dabei wird zwischen dem offenen, dem formellen und dem materiellen Kunstbegriff unterschieden.
Während der formelle Begriff dann von Kunst spricht, wenn ein Werk Merkmale aufweist, anhand derer man es einem festen Typ wie zum Beispiel Malerei, Bildhauerei etc. zuordnen kann, geht der materielle Kunstbegriff davon aus, dass Kunst dann vorliegt, wenn das Werk das Ergebnis einer schöpferischen Gestaltung ist, in dem der Künstler seine Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse zur Anschauung bringt. Beim offenen Kunstbegriff sprechen wir wiederum dann von Kunst, wenn das Werk interpretationsfähig ist. Wir sehen also, von einer rein passiven Beobachtung ist hier nicht die Rede und von juristischer Seite könnte man nun sagen: Videospiele sind definitiv der Kunst zuzuordnen, denn alle drei Kunstbegriffe können auf unser aller Hobby zutreffen.
Es gibt natürlich noch zig andere Definitionen und Deutungsversuche, was Kunst bedeutet, und fragt man zehn Künstler, so kann man sich sicher sein, dass man mindestens fünf verschiedene Ansichten zu hören bekommt. Das war übrigens auch bei uns in der Redaktion der Fall, als ich die Frage in den Raum geworfen habe, ob Videospiele nun Kunst wären oder nicht. Die Meinungen waren zwar allesamt pro Kunst, doch die Gründe dafür variierten:
Zitat von ntower-RedaktionVideospiele sehe ich als Kunst an, da sie Menschen auf viele verschiedene Arten berühren können. Seien es direkte emotionale Gefühle, weil man mit den Charakteren mitfiebert, weil einem ein Charakter ans Herz gewachsen ist, weil das Spiel einen an die Kindheit oder Sonstiges erinnert oder weil das Spiel einem, aus welchen Gründen auch immer, etwas bedeutet.
Zitat von ntower-RedaktionKunst ist für mich die Entfaltung einer Kreativität. Egal ob eine Skulptur, ein Bild oder im Textilbereich. Kunst ist vielfältig. Sobald jemand beginnt, ein Videospiel zu designen, ist das Kunst, egal ob gut, schlecht oder minimalistisch.
Da uns die reine Definition von Kunst nicht ganz zu einer einheitlichen und zufriedenstellenden Antwort verhelfen konnte, wollen wir einen Blick in Richtung verschiedener Entwickler und Stimmen aus der Industrie werfen. Hier dürften wir ja eine recht einheitliche Antwort auf diese Frage bekommen, oder etwa nicht? Die Ergebnisse meiner Recherche haben mich etwas überrascht, denn so eindeutig ist sie dann nun doch nicht. Es gibt durchaus einige Spieleentwickler, die sich selbst nicht als Künstler sehen und ihre Spiele dahingehend auch nicht als Kunst.
Was einen jeden Nintendo-Fan im ersten Moment überraschen dürfte, ist die Tatsache, dass Shigeru Miyamoto, der Schöpfer von Mario, in diese Reihe gehört. So gab er während eines Interviews an, dass er sich mehr als ein Designer denn als Künstler sehen würde, der stets versuche, die einzelnen Teilstücke zu einem Großen zu verbinden.
Ich bin ein Designer. Ich sehe mich nicht als Erschaffer von Werken, sondern eher als jemand, der Produkte kreiert, die den Menschen Freude bereiten sollen. Das ist der Grund, wieso ich meine Spiele immer als Produkt und weniger als Kunst angesehen habe.
Doch nicht nur Miyamoto, sondern auch der überaus bekannte und häufig gefeierte Hideo Kojima, wohl am meisten bekannt für seine Metal Gear Solid-Spiele, gab bereits mehrmals zu bedenken, dass Videospiele seiner Meinung nach keine Kunst seien. Er gestehe den Spielen zwar zu, dass sie auch Kunstwerke enthalten könnten, das Gesamtprodukt eines Videospiels wäre aber letztendlich nicht als Kunstwerk zu betrachten, ebenfalls mit dem Verweis auf die Interaktivität. So gab er während eines Interviews mit der Financial Times zu seinem Spiel Death Stranding zu bedenken:
Wenn du etwas nimmst, das wie eine Banane aussieht und dem Ganzen den Titel „Der Apfel“ gibst, dann ist das Kunst. Aber das trifft nicht auf Spiele zu. Wir erschaffen Dinge, die interaktiv sind. Eine Banane muss essbar sein, nachdem du sie geschält hast. Ein Auto muss fahrtüchtig sein. Damit Spiele interaktiv sein und unterhalten können, muss es eine Realität geben, in der im Hintergrund eine Menge an Menschen dafür sorgen, dass alles reibungslos läuft. Das sind wir, eine Art kunstgetriebene Service-Industrie.
Doch es gibt natürlich nicht nur negative Stimmen in dieser Hinsicht. Gerade in Deutschland gelten Computer- und Videospiele seitens des Kulturrats seit mehr als zehn Jahren als Kulturgut und eigenständige Kunstform. Natürlich trifft dies nicht automatisch auf jeden einzelnen Titel zu, doch gelten zum Beispiel Spiele wie Through the Darkest of Time als Kunst. Auch die Unterhaltungssoftware-Selbstkontrolle, auch bekannt als USK, spricht zum Beispiel Computerspielen ihre Daseinsberechtigung als Kunstwerke zu:
Computerspiele sind ein selbstverständlicher Teil unserer Alltagskultur und finden auch unter künstlerischem Aspekt Beachtung. Technisch Machbares und ästhetischer Ausdruck können sich in einer Art und Weise verbinden, dass Spiele Merkmale einer Kunstform in der zeitgenössischen Unterhaltung erhalten. Durch die Chance der Interaktivität können sich Entwickler wie Spieler durch das Medium ausdrücken, sich kritisch mit Gesellschaft und ihren Prozessen auseinandersetzen und dabei Wirklichkeit, Entwicklung und Veränderung reflektieren.
Davon abgesehen gibt es eine recht große Gruppe an Entwicklern und Industrievertretern, die in der Branche der Videospiele eine kreative und schaffende Industrie sehen, die ihren Teil zur modernen Kunst beiträgt.
Nun können wir uns zwar in die unterschiedlichsten Definitionen stürzen, uns Pro- und Contra-Argumente von wichtigen Persönlichkeiten anhören, aber letzten Endes zählt für die meisten von uns das rein subjektive Empfinden, vor allem in Bezug auf eine Frage, die man nicht direkt mit Ja oder Nein, sondern eher mit einem Jein beantworten kann. Der Großteil der Spielerschaft sieht, wenn man danach fragt, das eigene Hobby mittlerweile als eine Art von Kunst. Für diese Sicht der Dinge sprechen auch einige Spiele, die letztendlich mehr in die künstlerische Richtung gehen als andere Titel.
Dazu zählt zum Beispiel der Nintendo Gamecube-Titel The Legend of Zelda: Wind Waker, das sich mit seiner Cel-Shading-Grafik deutlich von seinen Vorgängern und anderen Titeln seiner Zeit abheben konnte. Ein eher aktuelleres Beispiel wäre Journey, das nicht nur mit einer wunderschönen Optik, sondern auch mit einer entsprechenden musikalischen Untermalung beeindrucken konnte. Oder wir schauen auf das kommende Paper Mario: The Origami King oder die jüngsten Yoshi-Titel, die allesamt mit einer außergewöhnlichen Optik aufwarten.
Doch nicht nur das, auch Spiele wie The Last Of Us, dessen zweiter Teil erst kürzlich erschienen ist, schaffen es, eine düstere Geschichte mit einer Grafik zu verbinden, die schon eher als eine Vermischung aus Film und Spiel anmuten – ein Konzept, das Spiele wie Heavy Rain oder Detroit Become Human fast schon zur Perfektion ausreizen.
Doch es sind nicht nur die visuellen Aspekte, die viele Spieler dazu bewegen, Spiele als Kunst zu deklarieren. Denn so wie die Literatur, die als Kunstform gilt, können natürlich auch Videospiele mit einer packenden und guten Handlung und Erzählform aufwarten. Als Beispiel sei hier die Bioshock-Reihe genannt, von der vor allem der erste und der dritte Teil mit unerwarteten Wendungen und einer gut inszenierten Geschichte daherkommen. Oder nehmen wir den Hexer Geralt aus The Witcher 3, dessen Abenteuer es mitunter problemlos mit seiner literarischen Vorlage aufnehmen können, wie zum Beispiel die Questreihe rund um den Blutigen Baron beweist.
Heutzutage verschwimmen die Grenzen zwischen Film und Spiel immer mehr. @ Sony Interactive Entertainment
Und dann kann es Videospielen natürlich auch gelingen, gängige Konventionen zu sprengen und in eine Richtung zu gehen, die mehr an teils bizarre, moderne Kunst erinnert. Denn was Filme wie Inception an Bildgewalt für den Zuschauer bereitstellen, kann ein Portal mit seinen verrückten Physikspielereien schon beinahe toppen. Und dabei sind Videospiele dank Virtual Reality gerade erst dabei, an der Oberfläche zu kratzen, denn von hier an wachsen die potenziellen Möglichkeiten nur noch mehr.
Die obigen Beispiele sind nur ein paar wenige, die das Prädikat Kunst sicherlich verdient hätten, und ich bin mir sicher, dass euch dahingehend noch viele weitere einfallen werden. Daher seid ihr bereits an dieser Stelle herzlichst dazu eingeladen, mir eure Vorschläge in den Kommentaren zu nennen. Doch zuletzt bleibt nur noch eine Frage zu klären.
Jetzt mag sich der eine oder andere, der sich durch dieses Spezial gelesen hat, sicherlich eben diese Frage gestellt haben. Wieso sollte es uns Spieler überhaupt tangieren, ob unser Hobby offiziell als Kunst angesehen wird? Es reicht doch vollkommen aus, wenn wir uns alle in dieser Sache einig sind, oder etwa nicht? Auch hier kann man das so pauschal nicht sagen. Denn abgesehen davon, dass es immer schön ist, wenn etwas von offizieller bzw. kultureller Seite abgesegnet wird, kommen noch andere Faktoren ins Spiel. Einer davon betrifft uns Spieler ganz konkret und das ist das leidige Thema von indizierten Spielen. Während man in Film und Fernsehen unter bestimmten Voraussetzungen auch verfassungsfeindliche Symbole wie ein Hakenkreuz abbilden darf, war dies in Computer- und Videospielen immer verboten. In einem Indiana Jones-Film durften die Nazis also vor einer Hakenkreuzflagge aufmarschieren, fand sich eine solche jedoch in einem Videospiel, war das ein Grund dafür, das Spiel zu indizieren.
Durfte als erstes Spiel der Reihe ungeschnitten in Deutschland erscheinen: Wolfenstein: Youngblood. © Bethesda Softworks
Das führte dazu, dass vor allem auf dem Ego-Shooter-Markt einige Spiele nie ihren Weg nach Deutschland fanden oder extrem geschnitten wurden. Weiter oben haben wir bereits die USK zitiert, die in Computer- und Videospielen mittlerweile einen Teil der Alltagskultur sehen, womit die Spiele auf eine Stufe mit dem Film gesetzt werden. Das führte zum Beispiel dazu, dass der Titel Wolfenstein: Youngblood nun auch mit der gleichen Symbolik erscheinen durfte wie im Rest der Welt. Das heißt natürlich nicht, dass nun ein Freifahrtschein ausgestellt wird. Jedes Spiel wird weiterhin individuell von der USK geprüft, doch es findet ein Annäherungsprozess an die übrigen Medien an.
Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Aspekt stellt dabei die Förderung dar. Was in anderen Ländern mittlerweile gang und gäbe ist, wird auch in Deutschland langsam Realität. So gibt es seit 2019 eine Förderung des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur, bei der Spiele mit bis zu 200.000 Euro gefördert werden können. Die Tatsache, dass Videospiele mittlerweile immer mehr Anerkennung im kulturellen Bereich erfahren, führte wahrscheinlich dazu, dass die Politik in unserem Hobby nicht nur die pure Verdummung, sondern auch das künstlerische und wahrscheinlich auch wirtschaftliche Potenzial erkannt hat.
Sind Videospiele nun Kunst? Jein. Für den einen sind sie es, für den anderen sind sie noch meilenweit davon entfernt. Und auch wenn zumindest in Deutschland Computer- und Videospiele so langsam im kulturellen Verständnis angekommen sind, so ist es noch ein weiter Weg, bis aus dem Verständnis ein Selbstverständnis geworden ist. Ich für meinen Teil sehe in Spielen durchaus Kunst, denn ihnen allen geht meist ein langer und kreativer Prozess voraus, der dafür sorgt, dass Welten erschaffen werden, in denen wir uns für eine gewisse Zeit verlieren können, sofern wir es denn wollen. Dementsprechend mag die rein lexikalische Definition mir widersprechen, aber ich sage: Ja, Videospiele sind Kunst und das auch berechtigt.
Wie seht ihr das? Sind Videospiele eurer Meinung nach Kunst, seid ihr da völlig anderer Meinung oder ist euch die Antwort auf diese Frage piepegal? Teilt mir eure Meinungen mit, mich würden sie sehr interessieren. Und dann verratet mir doch auch gleich, welche Spiele eurer Meinung nach das Prädikat Kunst verdient haben oder wo ihr mit mir so gar nicht einer Meinung seid.