Fluch und Segen des Scheiterns in Videospielen

Videospiele sind zu einem bedeutenden Bestandteil der modernen Freizeitbeschäftigungen geworden. Dabei lassen sich viele Parallelen zu anderen Medien feststellen, die ja auch direkte Konkurrenten um unsere Freizeit sind. Aber es gibt auch Unterschiede: Ein Charakteristikum der Videospiele, das weder von Filmen noch von Büchern oder auch von Songs geboten werden kann, ist die Möglichkeit zu scheitern. Alle anderen Unterhaltungsmedien bieten eine lineare Erfahrung, die der Konsument einfach erleben kann, ohne selbst unter den Druck zu geraten, ein bestimmtes Ziel erreichen zu müssen. Beim Spielen dagegen macht man sich gezielt auf, um Aufgaben zu meistern – oder auch nicht…


In diesem Blogeintrag möchte ich mich mit der Frage beschäftigen, ob das Scheitern in Videospielen notwendig ist oder nicht, ob es gewünscht oder lästig ist und wie eine Zukunft ohne Scheitern aussehen könnte.


Herausforderungen als Kernelement


Das Scheitern in Videospielen ist so alt wie Videospiele selbst. Durch die Möglichkeit, mit dem Geschehen auf dem Bildschirm zu interagieren, kamen den Entwicklern ganz natürlich verschiedene Ideen, die alle damit zu tun hatten, den Spielern Herausforderungen zu stellen. Das bedeutete natürlich, dass es auch eine Möglichkeit geben musste, das gesteckte Ziel nicht zu erreichen. Dieses Grundkonzept stellte die Entwickler schnell vor eine Frage, die im realen Leben nicht vorkommt: Was ist die Konsequenz des Scheiterns? Konsequenzen im wahren Leben sind eigentlich immer ziemlich klar: Wenn ich in der Schule nichts leiste, bleibe ich sitzen. Wenn im Beruf nichts leiste, werde ich rausgeschmissen. Wenn ich meine Freundin ärgere, gibt es was auf den „Deckel“. Und wenn ich in einen tiefen Abgrund stürze, dann bin ich halt tot.


Nun handeln Videospiele selten vom Alltag in Beruf oder Schule, aber häufig vom Springen über Klippen oder von kämpferischen Auseinandersetzungen mit Gegnern – darum muss man sich als Programmierer etwas intensiver mit den Konsequenzen des Scheiterns auseinandersetzen. Eine 1 zu 1 Kopie des echten Lebens würde schließlich bedeuten, dass man das Spiel nach dem ersten Scheitern wegschmeißen könnte. Tot ist schließlich tot. Das Funktioniert also im Sinne des Spielspaßes nicht so gut. Also wurden Dinge erfunden wie Extra-Leben, Rücksetzpunkte, Energiebalken oder auch vorübergehendes Aussetzen (z.B. bis ein Mitspieler heilend eingreift). Auf diese Weise wurde sichergestellt, dass Herausforderungen prinzipiell unbegrenzt angenommen werden konnten. So wurde das Scheitern und erneute Versuchen zur Methode. Während man das Scheitern in der Realität um jeden Preis vermeiden will, um den Konsequenzen zu entgehen, nimmt man es im Spiel wieder und wieder in Kauf. Das Ziel muss erreicht werden, egal wie oft man scheitert. In gewisser Weise ist dies eine sehr wertvolle Eigenschaft von Spielen, weil sie die Spieler lehren, hartnäckig und strebsam an einer Aufgabe zu arbeiten und sich nicht von Rückschlägen entmutigen zu lassen.


Verrückterweise entsteht durch das Scheitern erst der besondere Reiz vieler Spiele. Wer durch Marios Level hüpft, ohne ein einziges Leben zu verlieren, wird sicher nur mäßig begeistert sein. Die größte Ausschüttung von Glückshormonen kann man dagegen erleben, wenn man Aufgaben meistert, an denen man sich zuvor schon unzählige Male die Zähne ausgebissen hat. Herausforderungen und Scheitern sind also untrennbar mit dem Konzept der meisten Videospiele verbunden und nicht wirklich wegzudenken. Trotzdem sind sie nicht völlig unproblematisch.


Von Flow und Resignation


Auch wenn der gemeine Videospieler einen großen Teil seiner Motivation aus der Möglichkeit bezieht, bei seiner Herausforderung auch scheitern zu können, so gibt es doch zwei grundsätzliche Probleme, die das Scheitern mitbringt und sicher nicht wenige Menschen dazu veranlasst, sich doch lieber von Büchern, Musik und Filmen die Zeit stehlen zu lassen. Das erste ist die Resignation. Spaß, Erfüllung, Befriedigung und Begeisterung in Spielen kommen leider erst dann auf, wenn eine schwere Stelle wirklich gemeistert wurde. Allerdings gibt es keine Garantie, dass das allgemeine Publikum (und Videospiele wollen ja ein Massenmedium sein) jede Herausforderung auch wirklich übersteht. Der eine Spieler ist zu jung oder unerfahren, der andere hat vielleicht zittrige Hände oder nur geringe Konzentrationsfähigkeit, ein dritter kommt einfach nicht auf die Lösung eines Rätsels – und schon entsteht Frust.


Bis es zur völligen Resignation kommt, ist nur eine Frage der Zeit. Und dann bricht man das Spielerlebnis ab, ohne das Ende gesehen zu haben. Das ist sozusagen der Super-GAU für einen Spieler. Ich spiele schon lange und kenne viele Spiele – und meistens kommt es nicht dazu – aber auch ich erinnere mich an Spiele, die ich aus Frust komplett aufgegeben habe. Einige habe ich dann später erneut herausgeholt, andere aber komplett abgeschrieben. Das ist dann echt schade ums Geld und bleibt in sehr unschöner Erinnerung. Wer das Pech hat, einfach nicht gut genug zu sein oder viele Spiele zu erwischen, die ihn überfordern, dem kann man auch schwer vorwerfen, die Finger von Spielen zu lassen und sich stattdessen Filme anzusehen, bei denen er nicht scheitern kann.


Das zweite Problem des Scheiterns ist eines, das besonders in modernen Spielen immer häufiger zu beobachten ist: Scheitern stört den „Flow“. Während aufwändige Geschichten zu Beginn des Videospiel-Zeitalters eher selten waren, sind sie bei den meisten großen Produktionen heutzutage ein wichtiges Element. Es gibt aufwändig inszenierte Zwischensequenzen und gesprochene Dialoge, die auch teilweise parallel zum Spielgeschehen gesprochen werden. Damit nutzen die Entwickler die heutigen technischen Möglichkeiten, um den Spieler atmosphärisch in eine Spielwelt hineinzuziehen, wie es früher nur Filme konnten. Leider verträgt sich diese fesselnde Atmosphäre grundsätzlich nicht sehr gut mit dem Prinzip des Scheiterns. Die direkte Konsequenz des Scheiterns ist nämlich in den meisten Fällen die Wiederholung. Während die Wiederholung bestimmter Gameplay-Elemente wenig störend sind und die eigentliche Herausforderung darstellen, ist die Wiederholung von Story-Elementen einfach nur überflüssig und – je öfter wiederholt werden muss umso mehr – nervig.


Kennt ihr das auch, dass man einen bestimmten Abschnitt öfter wiederholen muss und die Figuren um einen herum geben immer wieder dieselben Kommentare ab? Das ist eine deutliche Schwachstelle von erzählten Geschichten in Videospielen! Immer wieder wird der Spielfluss („Flow“) unterbrochen, man wird aus einer noch so spannenden Geschichte zurück in die Realität geholt, weil einem wieder deutlich ins Bewusstsein hämmert, dass es sich um leb- und seelenlose Spielfiguren handelt. In Filmen wäre es undenkbar, dass sich die Charaktere wie Roboter wiederholen. An dieser Stelle werden wir wieder eingeholt von den vergangenen Entscheidungen, die die ersten Spielehersteller trafen, nämlich anstelle des endgültigen Dahinscheidens aus dem wahren Leben eine beliebig häufige Wiederholung zu setzen. Wer für sein Spiel also einen lebendigen und überzeugenden Spiel- und Storyfluss schaffen will, sollte möglicherweise über Alternativen zum Scheitern nachdenken.


Alternativen zum Scheitern


Es ist nicht so, dass die Entwickler dieses Problem nicht sehen würden. Schließlich gibt es bereits Konzepte, die dem Scheitern den Kampf angesagt haben. Ein Beispiel aus einigen Nintendo-Spielen ist der Super-Assistent. Wer zu oft an einer bestimmten Stelle des Spiels scheitert, erhält die Möglichkeit, diese praktisch zu überspringen. Das ist ein äußerst sinnvolles Instrument, um tiefer Frustration vorzubeugen. Auch was komplizierte Rätsel betrifft, ist der Spieler nicht mehr allein auf sich und seinen beschränkten Verstand angewiesen. ;) Neben Komplettlösungen, die dank Internet natürlich heute leicht greifbar sind, gibt es auch Spiele, die direkte Hilfen z.B. in Form von Wahrsagern anbieten, die in die Zukunft sehen und damit des Rätsels Lösung verraten können.


Doch trotz all dieser Instrumente ist es praktisch unmöglich, einen Schwierigkeitsgrad zu schaffen, der alle Spieler zufriedenstellt. Sollte man nicht vielleicht noch viel stärker überlegen, ob mit den heutigen Möglichkeiten nicht viel mehr Spielkonzepte denkbar sind, die auf das Scheitern komplett verzichten können? Aber wie würden solche Spiele aussehen? Grundsätzlich müsste der Spieler weiterhin beeinflussen können, was auf dem Bildschirm passiert – sonst wäre es ja kein Spiel, sondern ein Film. Wenn diese Interaktion nicht in positive und negative Konsequenzen unterteilt sein soll (also Erfolg oder Scheitern), dann müssten die Beeinflussungsmöglichkeiten mehrere unterschiedliche positive Konsequenzen bieten. Positiv heißt dabei nicht, dass jede Konsequenz gut und gefällig sein muss, aber das Prinzip des schlichten Scheiterns und Wiederholens wäre abgeschafft. Ein einfaches Beispiel wären interaktive Filme, bei denen der Spieler an manchen Stellen entscheiden darf, wie es weitergehen soll. Es gibt also verschiedene Versionen des Filmes und der Spieler entscheidet durch seine Interaktion über den Verlauf. Solche Experimente gibt es ja bereits und werden von Spielern sicher als zu einschränkend empfunden. Aber der Grundgedanke lässt sich weiter ausbauen.


Hier zwei Beispiele: In einem Spiel muss sich ein Spieler einem Kampf oder einer ganzen Schlacht stellen, schafft es aber nicht, seine Gegner zu besiegen. Das Spiel lässt ihn aber nicht sterben (für eine Story ist es halt ungünstig, wenn der Held stirbt), sondern lässt ihn verwundet ins Krankenhaus bringen. Jetzt wird von ihm aber nicht verlangt, exakt dieselbe Aufgabe erneut und so oft zu versuchen, bis er sie meistert, sondern im Spielverlauf wird dieser verlorene Kampf einfach hingenommen (ob das nun größere oder geringe Auswirkungen hat, liegt ganz bei den Spielemachern) und dem Spieler wird eine neue Aufgabe gestellt. So entsteht ein Fluss, der nicht durch ständige Wiederholungen unterbrochen wird und man kann in eine Story hineingezogen werden, die in ihrer Intensität mit der von Filmen vergleichbar wäre. Ein Nachteil dabei wäre sicherlich, dass noch zahlreichere Storyalternativen programmiert werden müssten als bisher. Die Spielzeit wäre wahrscheinlich insgesamt kürzer, dafür mit höherem Wiederspielwert.


Aber auch in einem klassischen Jump 'n‘ Run wäre das Prinzip der positiven Alternativen denkbar. Man müsste sich dann vom Prinzip verabschieden, „das Ziel“ erreichen zu müssen, und stattdessen verschiedene Ziele (pro Level) anbieten, damit (wie schon das Sprichwort sagt) der Weg das Ziel ist. Wer einen Abgrund hinunterfällt, muss ja nicht zwangsläufig ein Leben verlieren, sondern könnte auf eine andere Ebene fallen, von der aus er nicht dasselbe, sondern ein neues Ziel erreichen kann. Wer von einem großen Gegner gefressen wird, muss auch nicht sterben, sondern könnte sich als Miniaturversion seiner selbst durch das Innere des Gegners wieder heraus kämpfen. Und wer von einem Gegner getroffen wird, könnte als Konsequenz nicht das Ableben, sondern z.B. veränderte physikalische Gegebenheiten spüren (umgedrehte Steuerung, veränderte Schwerkraft, eingeschränktes Sichtfeld oder ein aufgeweicht wackelnder Boden…). Im Grunde ist sowas auch deutlich kreativer und abwechslungsreicher als das alte „1 up“-Prinzip. Die Herausforderung für die Entwickler ist es dann, Herausforderungen für die Spieler einzubauen – aber eben ohne das übliche Scheitern und Wiederholen. Das kann z.B. durch Sammeln von Gegenständen, erreichen von Extra-Leven durch bestimmte Ausgänge etc. passieren.


Fazit


Damit wir uns nicht falsch verstehen – das gute alte Gameplay-Prinzip des Scheiterns hat noch lange nicht ausgedient! Es hat sich bewährt und ist nicht umsonst so erfolgreich. Trotzdem sollten die Entwickler meiner Meinung nach häufiger versuchen, aus solchen alten Mustern auszubrechen und neue Wege zu beschreiten. Gerade in Storylastigen Spielen sollte man überlegen, ob nicht Alternativen zu ständigen Wiederholungen sinnvoll sind. Orientieren kann man sich dabei am realen Leben: Durch verschiedene Entscheidungen schlagen wir verschiedene Wege ein und landen dann an verschiedenen Zielen. Warum also stur einen Weg festlegen und dann verlangen, dass man so oft scheitert bis es klappt? Wenn man solche Gedanken für bestehende Spielkonzepte zulässt, bietet das Chancen für eine ganze Menge Kreativität, wenn auch sicherlich verbunden mit viel Arbeit. Aber gerade in einer Zeit, in der es alles irgendwie schon einmal gab, sind alternative Denkansätze doch nur begrüßenswert.

Kommentare 5

  • Ja, guter Blogeintrag.
    Das Scheitern beginnt ja schon bei den Arcadeautomaten und hatte früher den netten Zweck Geld in die Kassen zu bringen. Wenn Spieler scheitern, wollen sie es nochmal probieren und schmeißen die Münzen in den Spielekasten und ab gehts.
    Vor allem gefällt mir, dass du einige Sachen nennst, die ich nicht erwähnt habe ("Flow", was ist ein Spiel ohne Scheitern, wie könnten Spiele durchs Scheitern verändert werden etc.) Gut :)

  • @TristanMueller: Danke! :)


    Das mit dem Buddhismus ist echt ein interessanter Gedanke! Keine Ahnung, ob da tatsächlich etwas dran ist, aber die Idee klingt ganz einleuchtend...

  • Wieder mal ein super Blogeintrag von Dir! Du kannst wirklich sehr gut analysieren, das musste einfach mal gesagt werden. :)


    So und jetzt zum Thema: Ich vermute, dass das Prinzip des Scheiterns (Game Over > Continue) nicht nur praktische Gründe hatte, sondern auch mit einigen fernöstlichen Glaubensansichten zusammenhängt, wie dem im Buddhismus verbreiteten Glauben an Reinkarnation. Gerade in Japano-RPGs ist Wiederbelebung ja Gang und Gebe.


    Anders macht es da bekanntlich die Fire Emblem-Reihe, wo einmal gefallene Mitstreiter dauerhaft tot bleiben. Auch wenn das im neusten Teil ja optional auswählbar sein wird. Hat wahrscheinlich auch was mit dem Flow im Spiel zu tun, wie du gut erklärt hast.

  • @Akira: Tja, ich weiß, dass ich manchmal viel zu lesen aufgebe... ;)
    Ich gebe dir jedenfalls Recht, dass man auch eine faire Chance bekommen sollte. Wobei es bis zu einem gewissen Grad auch unterschiedlich wahrgenommen werden kann, was fair oder unfair ist...

  • Machts dir was aus, wenn ich schon nach nur 3 Abschnitten kommentiere?
    Also... ich habe nämlich nichts dagegen mal in einem Spiel zu scheitern, aber dafür muss das Spiel auch mir gegenüber bestimmte Voraussetzungen präsentieren und erfüllen. Ich will nämlich nicht verlieren, weil das Spiel mich mal extrem unfair behandelt hat durch Übervorteilung meiner Gegner oder schlecht durchdachten/programmierten Mechaniken, die bescheuert oder überflüssig bzw dumm sind, sondern weil ich in dem Moment auch sehen kann, dass ICH tatsächlich Mist gebaut habe. Wenn ich dann noch durch Weiterprobieren lernen kann, was ich besser zu machen habe und wie der Hase läuft, dann ist alles oder zumindest sehr viel am Spiel paletti. ^^