Rollenspielklassiker mit Altersschwäche
Wart ihr dabei, als Atlus zum ersten Mal versucht hat, mit der Shin Megami Tensei-Serie im Westen Fuß zu fassen? Die Antwort lautet höchstwahrscheinlich: „Nein“. Nicht nur liegt das Jahr 1995 schon ein gutes Weilchen zurück. Das Spiel und die Konsole, um die es hier geht, haben uns in Europa vor allen Dingen nie offiziell erreicht. Die Rede ist vom oft vergessenen Jack Bros., einem serienuntypischen Shooter-Spin-off für den gefloppten Virtual Boy. Während man in den USA ein Jahr später mit Revelations: Persona einen zweiten Anlauf wagte, feierte das Franchise sein europäisches Debüt erst 2005 mit der Veröffentlichung von Shin Megami Tensei: Lucifer's Call, das zwei Jahre zuvor bereits unter dem Titel Shin Megami Tensei III: Nocturne in Japan erschien.
Ebendiesen PlayStation 2-Klassiker wird Atlus am 21. Mai in Form von Shin Megami Tensei III Nocturne HD Remaster zurückbringen. Das Spiel erscheint dabei für die Nintendo Switch, die PlayStation 4 als auch für den PC via Steam. Zuerst wird der Titel ausschließlich als Digital Deluxe Edition angeboten und erscheint wenige Tage später am 25. Mai regulär im Handel und in digitalen Stores. Wir haben das HD-Remaster für euch auf der Nintendo Switch unter die Lupe genommen und sagen euch, ob sich der Kauf für Veteranen oder Neulinge lohnt.
Wie viele Abenteuer aus dem Hause Atlus ist auch dieses Spiel in Japan, noch konkreter in Tokyo angesiedelt. Nach einem kurzen Vorgeplänkel werdet ihr mit den finsteren Machenschaften konfrontiert, welche diese Welt ins Chaos zu stürzen drohen. Ein zwielichtiger Kult hat es darauf abgesehen, die sogenannte Empfängnis einzuleiten und durch eine apokalyptische Wende die Welt neu zu formen. Inmitten des Tumults seid ihr, die Hauptfigur, als Halbscheusal neu geboren und nun dazu verdammt, dieser wirren Welt zu trotzen und ihren Wandel nach eurem Belieben zu lenken.

Dialoge und Storysequenzen profitieren enorm von der neu hinzugefügten Sprachausgabe.
© Atlus / SEGA
In typischer Shin Megami Tensei-Manier dürft ihr euch hier auf einen Mix aus Dungeon-Erkundung und Kämpfe einstellen. Während ihr durch die labyrinthartigen Umgebungen wandert, Items aufsammelt und mit Figuren sprecht, wird euch die Karte von großem Nutzen sein, um euch in den Komplexen aus Tunneln und Räumen zurechtzufinden. Bereits betretene Bereiche werden automatisch auf der Karte eingezeichnet, sodass es sich lohnt, jeden Winkel abzugrasen. Gründliche Spieler werden hierfür immer wieder mit gut versteckten Items belohnt.
Teil der Anzeigen auf dem Spielbildschirm ist zudem eine Art Kompass, welcher nicht nur über Himmelsrichtungen Auskunft gibt, sondern auch in verschiedenen Farben und Intensitäten pulsiert – je nachdem, wie „nah“ ihr an einem Kampf seid. Shin Megami Tensei III Nocturne HD Remaster bleibt dabei ganz dem Original treu und setzt auf Zufallsbegegnungen. Neulinge können sich das ungefähr so vorstellen wie Höhlen aus klassischen Pokémon-Spielen, in denen ihr andauernd von nervigen Zubat belästigt werdet. Im Gegensatz zu Pokémon könnt ihr in diesem Spiel jedoch nahezu überall auf Zufallsbegegnungen stoßen, denn Ruhezonen gibt es wenige.
Von der Oberwelt in den Kampf gewechselt, müsst ihr euch vielleicht einem etwas stärkeren Gegner oder gleich einer ganzen Reihe an finster dreinblickenden Dämonen stellen. Glücklicherweise kämpft ihr nicht allein, sondern könnt andere Dämonen für eure Seite gewinnen, indem ihr sie in Gesprächen oder Verhandlungen überzeugt.

Auf der Suche nach Antworten wird sich euch mehr als nur einmal jemand in den Weg stellen.
© Atlus / SEGA
Eure aktive Party kann aus maximal vier Mitgliedern bestehen, wobei weitere Dämonen als Reserve mitgenommen werden können. Bei der Kathedrale der Schatten könnt ihr eure Dämonen fusionieren und opfern, um noch stärkere Verbündete zu erhalten. Diese Mechanik hat bis zu den heutigen Ablegern Bestand und gilt wohl als eines der Hauptmerkmale von Shin Megami Tensei respektive Persona.
Auch wenn Kämpfe grundlegend der klassischen Rollenspielformel folgen, hebt sich das Kampfsystem durch die hier erstmals eingeführte „Press Turn“-Mechanik ab. Im Kampf verfügt jeder Mitstreiter, sowohl Verbündete als auch Gegner, pro Runde über eine Aktion, die durch ein Icon repräsentiert wird. Allgemein gesprochen wird das Icon „verbraucht“, nachdem ihr eine Aktion für die Figur ausgewählt habt. Landet ihr mit der gewählten Aktion allerdings einen kritischen Treffer oder nutzt die Schwäche des Gegners aus, so wird das Icon nur „halb verbraucht“ und euch wird eine weitere Aktion gewährt. Dieses System funktioniert auch heutzutage noch hervorragend und ermöglicht allerhand strategische Vorgehensweisen in Kämpfen. Die „Press Turn“-Mechanik kam anno 2003 tatsächlich so gut an, dass sie seitdem (abgewandelt) in vielen Serienteilen Einzug fand, darunter auch in den modernen Persona-Spielen.
Magatama gelten als eine weitere Kernmechanik von Shin Megami Tensei III Nocturne HD Remaster. Dabei handelt es sich um spirituelle Items, die ihren Trägern besondere Kräfte verleihen. Basierend auf dem ausgerüsteten Magatama kann die Hauptfigur neue Fähigkeiten erlernen und Werteverbesserungen erhalten. Magatama können frei gewechselt werden, also dürft ihr ruhig etwas herumprobieren, bis ihr den für euch passenden Stil gefunden habt.
Wie auch schon im Spieletitel ersichtlich wird, versteht sich Shin Megami Tensei Nocturne HD Remaster als aufgehübschte Neuauflage des Originalspiels. Nicht als Remake, nicht als Reboot. Atlus hat für die 2021er-Version seines PlayStation 2-Klassikers eine Handvoll Auffrischungen vorgenommen, um das Spiel ein Stück weit zu modernisieren.

Bossgegner wollen euch ans Leder. Im „Gnädig“-Modus dürfte der Kampf aber selbst für Unerfahrene ein Klacks sein.
© Atlus / SEGA
Auf der optischen Seite dürft ihr euch über erneuerte 3D-Modelle und Hintergründe freuen. Für eine verbesserte Nutzerfreundlichkeit wurde die Option zum Zwischenspeichern hinzugefügt, was sich insbesondere auf der Nintendo Switch anbietet. Zudem wird den Charakteren zum ersten Mal durch eine englische und japanische Synchronisation Leben eingehaucht, was das Remaster gegenüber dem stummen Original enorm aufwertet.
Eine weitere und sehr bedeutende Neuerung ist der Schwierigkeitsgrad „Gnädig“. Das Original ist berühmt-berüchtigt für seine knüppelharte, unbarmherzige Schwierigkeit, entsprechend mussten Änderungen her, um Neueinsteiger nicht zu verschrecken oder zu frustrieren. Spielt ihr auf „Gnädig“, teilt ihr doppelten Schaden aus, steckt halben Schaden ein, gewinnt dreifache Erfahrungspunkte und verdient die vierfache Menge an Macca, die Währung im Spiel. Dies eignet sich vor allem dann, wenn ihr euch mit den Spielmechaniken noch nicht sicher fühlt oder schlichtweg die Handlung erleben wollt. Selbst gefürchtete Bossgegner werden damit zum Kinderspiel. Besonders lobenswert ist, dass jederzeit zwischen den Schwierigkeitsgraden gewechselt werden kann. So könnt ihr euch das Spiel je nach Situation leichter oder schwieriger machen, ganz wie es euch beliebt.
Weniger rosige Worte habe ich für die audiovisuelle Präsentation des HD-Remasters. Trotz der augenscheinlich verbesserten 3D-Modelle und Hintergründe kommen viele Orte und Szenerien im Spiel alles andere als gut weg. Die Tatsache, dass Atlus bei diesem Abenteuer auf Postapokalypse mit schwindend geringer Präsenz von Menschen setzt, wirkt sich negativ auf das Umgebungsdesign aus. Was im „PlayStation 2-Matsch“ noch verwaschen und undeutlich dargestellt wurde – und so vielleicht Raum für Interpretation und Fantasie übrig ließ – erstrahlt nun im Glanz von HD karg und trostlos, aber vor allen Dingen leer.
Diese Leere ist nicht nur irritierend, sondern auch ein echter Immersions-Killer und schadet der Glaubwürdigkeit der eigentlich recht faszinierenden Spielwelt. Ähnlich bedauernswert ist das 4:3-Bildformat der vorgerenderten Zwischensequenzen, welche direkt aus dem Originalspiel zu stammen scheinen, und die zum Teil dürftige Audioqualität mancher Musiktitel, die für einen blechernen Klang sorgt.
Als Shin Megami Tensei: Lucifer's Call bei uns im Jahr 2005 erschien, wäre ich viel zu jung gewesen, um es gespielt zu haben. Entsprechend erlebe ich die Geschichte rund um das Halbscheusal in Shin Megami Tensei III Nocturne HD Remaster nun zum ersten Mal. Und doch fühlt es sich an, als wäre ich – nicht nur auf audiovisueller, sondern auch auf spielerischer Ebene – ins Jahr 2005 zurückgeworfen worden. Zufallsbegegnungen im großen Stil, eine standardmäßig gnadenlose Schwierigkeit, kaum Tipps oder Erklärungen. Mit Sicherheit gibt es Spielertypen, die genau auf so etwas stehen und es befürworten, nicht an der Hand gehalten zu werden. Ich zähle in diesem Fall aber nicht dazu und muss Atlus tadeln, nicht mehr Mühe investiert zu haben, um das Spiel von Grund auf zu modernisieren. In diesem Zustand kann ich potenziellen Interessenten nur raten, erst einmal abzuwarten, ob das bevorstehende Shin Megami Tensei V nicht ein deutlich runderes und für heutige Spieler ansprechenderes Gesamtpaket liefern wird.
Unser Fazit

6
Überzeugend