Narrative Spitzenqualität auf der Flucht nach Mexiko

Kaum ein anderes Spiel hat das Genre des modernen Adventures so sehr geprägt wie die Life is Strange-Reihe, welche 2015 mit den Protagonistinnen Max und Chloe debütierte. Die übernatürliche Geschichte der beiden Freundinnen wurde episodisch präsentiert und bediente sich somit auch etwas an der Erzählweise von Serien und Filmen – nur eben interaktiv wie beim Genre-Vorreiter der Point-and-Click-Adventures. Die Entwicklerstudios Don't Nod Entertainment und Deck Nine prägten mit Life is Strange die jugendliche „Generation Tumblr“ und hinterließen bleibende Spuren der 2010er Popkultur. Nach einem Prequel, das vor allem die Punkerin Chloe in Szene setzt, erschien im Jahre 2018 das nächste eigenständige Abenteuer der Reihe. Life is Strange 2 beinhaltet zwar ebenfalls übernatürliche Elemente, birgt aber gänzlich andere Ansätze und erzählt eine Fluchtgeschichte zweier Brüder. Die Reihe prägte mein Videospiel- aber auch Karriereinteresse bezüglich meiner Schwerpunkte der Universität im Bereich Game Studies und besitzt daher auch einen hohen persönlichen Stellenwert. Damals stoppte ich aus verschiedenen, vom Spiel losgelösten Gründen bei Episode 2 und war sehr verwundert, gleichzeitig überglücklich, den Rest der Reise von Sean und Daniel nun auch auf der Nintendo Switch zu erfahren. Ob der zweite Teil jedoch ähnliche Impulse wie Max‘ und Chloes Dynamik in mir auslöste, erfahrt ihr in unserem Test.


Zweiköpfiges Wolfsrudel auf der Flucht vor dem Übernatürlichen


Natürlich werde ich nicht drumherum kommen, Life is Strange 2 mit der Königin des interaktiven Storytellings zu vergleichen. Gleichzeitig erkenne ich den Titel als eigenständig an und versuche so gut es geht Abstand zu Chloe und Max zu wahren. Im zweiten großen Titel von Dontnod macht das Studio einen großen Schritt weg vom Tumblr-Geschehen seiner Zeit und widmet sich zwei Brüdern: Sean und Daniel haben mexikanische Wurzeln und wachsen in einer Kleinstadt in den USA auf. Der Teenager Sean besucht gerne Partys, trifft Freundinnen und Freunde, sagt auch gerne Ja zu Dates. Sein kleiner Bruder Daniel hingegen erträgt nur schwer Seans Erwachsenwerden und vermisst das Puzzeln oder Spielen mit Actionfiguren. Unverständnis kommt auf, wenn Daniel realisieren muss, dass das, was mal war, wohl langsam aber sicher schwindet. Im Hause Diaz kommt es daher nicht selten zu Streitereien, Unstimmigkeiten und Missverständnissen, sodass Vater Esteban aus seiner geliebten Mechaniker-Garage ins Haus gerufen wird, um zu schlichten. Der Schraubenschlüssel klimpert auf den Garagenboden und mit lautem Schritt bahnt er sich seinen Weg ins Kinderzimmer, um erneut, vielleicht ein letztes Mal, ein Machtwort zu sprechen. Schnaufend und genervt verlässt Sean das Zimmer seines kleinen Bruders und checkt, ob er alles für die anstehende Halloween-Party am Abend im Rucksack hat.


Die Brüder Sean und Daniel Diaz sind unzertrennlich.

© Square Enix

Nach kurzer Zeit ertönt wieder Daniels Stimme. Sean folgt den Schreien in den Vorgarten und sieht, dass Daniel tollpatschig, wie er ist, das helle T-Shirt seines weißen Nachbarn mit Kunstblut verschmiert und dieser sich gewalttätig am kleinen Jungen rächen möchte. Beschützend – das Leitmotiv in Life is Strange 2 – interveniert Sean und ehe er sich versieht, fliegen Fäuste. Sean, der seinen Bruder ebenfalls verteidigen möchte, stößt seinen Kontrahenten weg. Der Teenager-Nachbarsjunge fällt unglücklich auf einen hervorstehenden Stein und verliert schnell den Atem. Es dauert nicht lange bis ein Streifenwagen mit Blaulicht und Horn am Haus der Diaz hält und sich ebenfalls Vater Esteban einschaltet, welcher erneut den Konflikt schlichten möchte. Der weiße Polizist ist sichtlich überfordert und möchte den Vater der Brüder ruhigstellen – statt mit Worten eben mit einer 9mm-Waffe. Als das Blut aus dem mittlerweile leblosen Körper fließt, löst Daniel eine zuvor nicht gesehene Schockwelle aus und schleudert den Polizisten weg, der ebenfalls sein Leben auf dem Grundstück der kleinen Familie Diaz lässt. Sean und der nun bewusstlose Daniel haben nicht viel Zeit zu trauern und fliehen. Das nächste Ziel: Puerto Lobos, wo Estebans verbleibende Familie zu leben scheint. Es folgt eine Reise quer durch die USA, immer weiter gen Süden – vollständig auf sich alleine gestellt.


Enorme Entscheidungsfreiheit auf allen Wegen


Schnell freundete ich mich mit den beiden Brüdern an und versuchte ständig, beide Seiten nachzuvollziehen: Auf der einen Seite erleben wir den sehr jungen und verspielten, gleichzeitig mächtigen Daniel, der noch nicht erwachsen werden will. Er erkennt den Ernst während der Flucht nach Mexiko nicht, will stellenweise doch nur Kind sein – besitzt gleichzeitig eine übernatürliche Kraft, die auf der Flucht noch von großem Nutzen werden soll. Sean hingegen übernimmt nun ungewollt Verantwortung und leitet seinen kleinen Bruder, muss ihn schützen und in die Schranken weisen. Es entsteht eine sehr interessante Dynamik zwischen den Geschwistern, die euch beide Charaktere teils hassen, teils aber auch lieben lassen. Manche dürften die quengelnde Art von Daniel furchtbar anstrengend finden, andere hingegen schütteln mit dem Kopf, dass Sean so stark eingreifen möchte. In Life is Strange 2 wird euer Empathievermögen ordentlich auf die Probe gestellt und sticht somit herrlich heraus.


Manche Entscheidungen haben stärkere Auswirkungen auf den Verlauf der Geschichte als andere.

© Square Enix

Die Probe verläuft wie in den anderen Life is Strange-Ablegern und allen Until Dawns, die es da draußen gibt, indem ihr auch Einfluss darauf nehmt, wie ihr die Geschichte von Sean und Daniel erlebt. Ihr entscheidet, wie viel ihr über Seans Leben erfahren wollt, indem ihr mit verschiedenen Gegenständen auf eurer Reise interagiert, Briefe und Notizen lest, oder kleinere Tätigkeiten ausführt, die ihr auch getrost auf Seite schieben könntet. Ausschlaggebend für den Verlauf der Geschichte sind diese nämlich nicht, sondern beeinflussen diese nur euer persönliches Verständnis von der Welt und die Beziehungen zu den fiktiven Charakteren. Andere Kernaspekte besitzen jedoch höhere Wichtigkeit, wie beispielsweise schwerwiegende Entscheidungen, die ihr während der insgesamt 5 Kapiteln immer wieder treffen müsst. Manche von ihnen bestimmen Seans Beziehung zu Daniel, geben also an, ob ihr euch als Geschwister näherkommt oder weiter distanziert. Das hat langfristig Einfluss auf den Verlauf der Geschichte und Storyplots. Andere sind noch ein Stück schwerer gewichtet und stellen euch vor eine Abbiegung: Behaltet ihr bestimmte Informationen für euch, oder gebt ihr die Preis? Werdet ihr ein bestimmtes Utensil stehlen, damit also eine Straftat begehen, oder bleibt ihr ehrlich? All das hat Einfluss auf größere Knotenpunkte in der Geschichte, die zu unterschiedlichen Enden führen. Anders als bei anderen Story-Spielen geratet ihr in Life is Strange 2 nicht selten in die knüppelharte Bredouille, das Aushängeschild der Reihe, und werdet damit emotional auf die Probe gestellt. Durch eure Entscheidungen, wie die fiktiven Charaktere eben handeln, übernehmt ihr Verantwortung und seid emotional anders investiert – und hier glänzt auch Life is Strange 2 auf ganzer Linie. Zwar sind manche Entscheidungen, meiner Ansicht nach, weniger wichtig, werden aber als sehr ausschlaggebend dargestellt, andere sind dafür tatsächlich umso entscheidender.


Hier hat das Entwicklerstudio einen schön ausbalancierten Mix geschaffen, der euren moralischen Kompass angenehm in Frage stellt, euch manchmal aber trotzdem in die Ecke drängt. Ich möchte hier lediglich anmerken, dass mir in seltenen Fällen keine der Antwortmöglichkeiten wirklich gepasst hat, sodass ich gerne von der realen Welt aus interveniert und „meinen richtigen“ Weg gezeigt hätte. Aufgrund der technischen Limitationen des Mediums hat dies natürlich nicht funktioniert, also war ich gezwungen, die weniger „schlechte“ Antwortmöglichkeit auszuwählen. Schade, denn ich fühlte mich dadurch als Spieler nicht vollständig verstanden. Nach wie vor bleibt diese Erfahrung aber individuell und vielleicht waren meine sehr seltenen Situationen eine Ausnahme, das möchte ich an dieser Stelle betonen.


Setzt euch, atmet durch, haltet den Moment mit kleinen Zeichnungen fest.

© Square Enix

Dontnod hat mit Life is Strange 2 nicht nur eine angenehme Entscheidungsfreiheit gestalten können, sondern auch eine hervorragende Erzählstruktur. Daniel und Sean erleben teils emotional sehr anstrengende und fordernde Momente, nur damit wir als Dreiergespann einen Moment später kurz durchatmen dürfen. Bei schönen Gitarrenklängen halten wir kurz inne, dürfen stellenweise schneebedeckte Landschaften begutachten und emotional einen Gang zurückschalten, um einfach mal durchzuatmen. Zwischen großen Storyabzweigen werdet ihr als Spieler oder Spielerin aus dem Geschehen rausgeholt und müsst euch für einen Moment distanzieren, zuschauen, „passiv“ werden. Für manche hört hier die Erfahrung auf – für mich wird sie durch solche Momente vollendet. Es hat gutgetan, mit Sean und Daniel durch nördliche Nadelwälder zu spazieren und über das Geschehene zu reflektieren: Energie tanken für die kommenden Szenerien. Life is Strange 2 ist ein Roadtrip mit allen Facetten, schön geschriebenen Charakteren und größtenteils fordernden Entscheidungsmöglichkeiten, dessen Quantität im Vergleich zu den vorher erschienenen Ablegern nochmal um ein beachtliches Stück erweitert wurde, was den Wiederspielwert enorm erhöht. Ihr erlebt eure persönliche und individuelle Geschichte mit Sean und Daniel, welche sich auf knapp 20 Stunden streckt.


Auf eurer Reise trefft ihr alle Arten von Menschen, die euch mindestens kurzweilig begleiten.

© Square Enix

Auf Seans Zeichenblock hört sich Life is Strange 2 nach dem perfekten Adventure an, das durch die USA-Mexiko-Thematik politisch herausfordert, euch aber auch auf emotionalem Wege straucheln lässt – leider stottert der Titel auf der Nintendo Switch sehr. Die Ladezeiten sind unendlich lange, manche Bildeinbrüche sind, gerade am Anfang, wirklich nicht in Ordnung. Das leider schlechte Gesamtbild wird durch spät auftauchende Gegenstände verschlimmert und entzieht der Geschichte jegliche Immersion. Persönlich stört mich die fehlende deutsche Sprachausgabe nicht, kann die englische nämlich wirklich sehr überzeugen, trotzdem muss das Studio letztendlich dafür sorgen, dass entsprechende Untertitel sowohl zeitlich passen als auch generell ihren Platz am unteren Bildschirmrand finden. Nicht selten wurden gar keine Untertitel angezeigt und der relevante Informationsteil ließ sich auch nicht aus den Bildern erschließen. Da ich der englischen Sprache mächtig bin, stellte dies für mich persönlich kein Problem dar, trotzdem sollten die Untertitel immer gegeben sein, um keine Spieler und Spielerinnen auszuschließen. Stirnrunzeln verursachte darüber hinaus noch die Größe von Life is Strange 2: Mit satten 27 Gigabyte ladet ihr das Spiel recht lange runter und müsst zudem eure Nintendo Switch ordentlich aufräumen. Die Größe ist ein riesiger Brocken und unverhältnismäßig groß – selbst die ältere Arcadia Bay Collection kommt nur auf 16 Gigabyte und beherbergt sogar zwei Titel.

Unser Fazit

8

Ein Spiele-Hit

Meinung von Michael Barg

Life is Strange 2 ist seinen Genre-Geschwistern mehr als würdig und erzählt eine emotional zerreißende Geschichte, die euch nochmal mehr in einen gefühlsvollen Schwitzkasten wirft. Ihr erlebt mit Sean und Daniel einen Roadtrip durch die USA mit Mexiko als Ziel, lernt zwielichtige Gestalten unterwegs kennen, die euer Vertrauen mit unterschiedlich gewichteten Entscheidungen auf die Probe stellen. Hier baut das Entwicklerstudio das Repertoire noch einmal aus und gibt öfter Möglichkeiten, die Geschichte individuell anzupassen und zu eurem persönlichen Erlebnis zu machen – so wird auch der Faktor des von euch tragenden Risikos auf ein neues Level gebracht und kann auf ganzer Linie überzeugen. Negativ ins Gewicht fällt jedoch die Leistung auf der Nintendo Switch: Mit satten 27 Gigabyte muss der Hybrid ordentlich Kraft aufbringen, den langen Ladezeiten und dem technischen Husten entgegenzuwirken. Aufploppende Assets und fehlende Untertitel frustrieren auf Dauer deutlich. Könnt ihr darüber hinwegschauen und auf baldige Updates hoffen, erwartet euch eine fantastisch emotionale Reise mit grandios geschriebenen Charakteren und Momenten.
Mein persönliches Highlight: Daniels und Seans Tanz zu „Banquet“ von Bloc Party, die Geschichte und der Grad an Entscheidungsfreiheit.

Awards

Spiele-Hit

Die durchschnittliche Leserwertung

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Kommentare 10

  • AlphaMel

    Turmheld

    Ich bin echt überrascht von der hohen Wertung. Als großer Life is Strange Fan hab ich den Teil natürlich auch gespielt und fand ihn... furchtbar. Von der Idee her wirklich cool, aber die Umsetzung hat mir echt keinen Spaß gemacht.


    Der Teil hier spielte sich über große Strecken sehr langatmig, während wirklich interessante Stellen zu kurz kamen. Zudem waren mir die beiden Brüder häufig unsympatisch und vor allem Daniel hätte ich häufig gern den Controller an den Kopf geworfen bei seinem unmöglichem Verhalten, auf das man wenns wirklich drauf ankommt eben nicht viel Einfluss hat. Wirklich schade, denn sämtliche andere Charaktere im Spiel wachsen einem ans Herz.

  • Darkseico

    Turmfürst

    AlphaMel

    Danke für deine Meinung zum zweiten Teil. Finde es interessant. In anderen Foren wird dieser Teil als der beste beschrieben etc. Da kann man sehen wie unterschiedlich die Geschmäcker sind. 🥰

  • Beeas

    Turmheld

    8 von 10 bei offenbar derartig extremen Performanceproblemen finde ich etwas hoch angesetzt.

  • Wowan14

    Gamer aus Leidenschaft

    Also ich und mein Bruder fanden es auch furchtbar...

    Ich finde weder dieser Teil noch irgendein anderer der Reihe kommt an den ersten auch nur ansatzweise ran


    Finde es hätte einfach als standalone Titel bleiben sollen und nie zu einer Reihe werden sollen, besonders weil gerade Max' Fähigeit das Spiel so besonders gemacht hat und ohne diese jeder Ableger automatisch weniger spaßig ist, da jede Handlung und Entscheidung nun endgültig ist.

  • ChrisLanowski

    Turmknappe

    Ich habe diesen Teil auf der PS4 gespielt. Hat mir wahnsinnig gut gefallen. Super Atmosphäre und super Story.

  • AgentYork

    Turmheld

    Bin ein großer Fan von Life is Strange 1 / Before the Storm und auch der neue Teil hat mir gut gefallen. Mit Teil 2 wurde ich so überhaupt nicht warm, ich fand die beiden Jungs total nervig ^^ Aber ist sicherlich Geschmackssache.

  • ONKLDNS

    Turmritter

    Danke für den Test! Da ich mir wieder eine neue Switch (OLED) geholt habe, fände ich den Titel interessant. Bin riesen Fan vom Vorgänger (Before the Storm, naja).


    Aber ist hier Captain Spirit inkludiert? Das gibt es ja nicht einzeln für die Switch.

  • Michael Barg

    Redakteur

    ONKLDNS Danke! Captain Spirit ist leider nicht enthalten, nein :(

  • ONKLDNS

    Turmritter

    Schade. Ich mache mich Mal schlau, wie wichtig das tatsächlich für die Story ist.

  • Wowan14

    Gamer aus Leidenschaft

    ONKLDNS es ist kein wirklich großer Ableger, mehr wie eine Art Demo/kleine Episode. Schau es halt einfach per Video notfalls an. Wenn ich so die Videos anschaue dauert es nur 1h 20min im Schnitt