Gefangen im Netz der Trauer
Manche Themen betreffen bestimmte Menschen stärker als andere, während bestimmte Themen jeden treffen können. Trauer und Tod ist genau ein solches Thema. Ich kann von Glück sagen, dass ich von dieser Thematik bisher verschont geblieben bin. Auch wenn ich mich vielleicht in Sicherheit wiege, wird der Tod sicherlich auch eines Tages an die Tür klopfen und mein Leben verändern oder gar beenden. Die Visual Novel The Wreck vom französischen Indie-Studio The Pixel Hunt beschäftigt sich mit der Thematik Tod, Trauer und Mutterschaft.
Wer sich mit dem Thema Tod, Trauer oder Suizid unwohl fühlt, sollte diese Rezension und das zugehörige Spiel überspringen – Wir lesen uns dann an anderer Stelle wieder.
Es gibt keinen großen Vorspann – ihr befindet euch direkt im Geschehen: Dabei verfolgt ihr die Ereignisse der Autorin und Tochter einer bekannten französischen Künstlerin, die ins Krankenhaus gerufen wurde, da bei ihrer Mutter ein Hirnaneurysma festgestellt wurde. Zu Junons Überraschung wurde sie von ihrer Mutter eingetragen, die schweren kommenden Entscheidungen zu treffen, da ihre Mutter selbst nicht diese Entscheidungen treffen kann. Junon, sichtlich irritiert und gereizt, beginnt nicht nur mit der Suche nach der Antwort, ob ihre Mutter mit starken Einschränkungen leben oder in Frieden sterben soll, sondern verlebt auch eine persönliche Reise, die sie durch Trauer, Verzweiflung, Liebe, Schmerz, Mutterschaft und Schwesternschaft führt.
Junons Mutter ist keine einfache Frau. Als exzentrische Künstlerin mit zwei Kindern hat sie stets ihren eigenen Weg gesucht. Auch die Erziehung ihrer beiden Kinder war außergewöhnlich. In der Art, dass alle Aufmerksamkeit von der Mutter einverleibt wurde und Junon und ihre Schwester Diane ewig in ihrem Schatten standen. Diane hat sich dazu entschieden, mit voller Kraft und ohne Kompromisse ihren Weg zu gehen. Junon dagegen fühlte sich ewig mit ihrer Schwester verglichen und entschied sich dafür, eher die Tollpatschige zu sein. Der Wendepunkt ihres Lebens und die Wurzel all ihrer aktuellen Probleme liegen aber im schmerzhaften Verlust ihrer geliebten Tochter vor fünf Jahren.
Die Handlung ist im Kontrast zum Gameplay komplex. Während ihr aus der Third-Person-Perspektive die Ereignisse aus der Sicht von Junon beobachtet, klickt ihr euch mittels Knopfdruck durch den Text. Dabei werden im Laufe von Gesprächen oder Junons Gedanken Wörter speziell markiert. Dabei gibt es oft verschiedene Wörter zur Auswahl. Je nach Wahl wird dann der Gedanke von Junon oder die Auswahlmöglichkeit bei Gesprächen geändert. Das Ziel dieser Visual Novel ist es, durchzuhalten und aufmerksam zu bleiben. In den verschiedenen Szenen tauchen nämlich auch zerstreute Gedanken auf, die erst sichtbar werden, wenn ihr mit eurem Cursor per Joystick hinüberstreicht.
The Wreck teilt sich in zwei Bereiche auf, die sich abwechseln: Zuerst gerät Junon im Krankenhaus in einen Konflikt mit einer Person aus ihrem Leben. Nachdem sie dann aus Wut, Trauer oder Angst das Krankenhaus verlässt, hat sie einen Autounfall. Ganz nach der Manier: Das eigene Leben zieht vor dem Tod an ihr vorbei, weshalb sie sich an bestimmte Situationen in ihrem Leben erinnert, dank der Gegenstände, die im Auto herumfliegen und ihr Gedächtnis stimulieren. Diese Erinnerungen sind eine kamerageführte Erzählung. Die Kamera fährt also automatisch durch einen dreidimensionalen Raum und erzählt von den Szenen, die in dem Standbild zu erkennen sind. Im weiteren Verlauf bewegt ihr dann die Kamera auf der festgelegten Stelle vorwärts oder rückwärts und sucht nach Gedankenfragmenten.
Nach einer solchen Erinnerung dreht sich die Zeit wieder zurück und Junon wird wieder an die Stelle zurückversetzt, an der sie ausgerastet wäre und die Flucht ins Auto ergriffen hätte. Dank des Durchlebens einer Erinnerung ändert sich jetzt aber ihre Sichtweise und damit der Ausgang des Gesprächs. Dieses Pingpong-Spiel zwischen den Erinnerungen und den Gesprächen und Diskussionen mit ihrer Schwester oder ihrem Ex-Mann führen dazu, dass ihr immer tiefer in die Seele von Junon eintauchen könnt. Die wahre Überraschung wartet aber in der letzten Hälfte des Spiels, wenn Junon den Sumpf der Trauer durchqueren muss.
Die grafische Ausarbeitung der 3D-Visual-Novel ist in einer Art Comicstil gehalten. Auch die Thematik und die Herangehensweise erinnern an französische Erzähl- und Zeichenkunst. Die Tastenbelegung bedarf etwas Gewohnheit. Durch die überschaubare Anzahl an Aktionen ist dies aber kein Problem. Besonderen Charme verbreiten die Synchronschauspieler dieser Produktion. Sie hauchen den Charakteren mit ihrer emotionalen Performance echtes Leben ein. Besonders charmant ist dabei der französische Akzent, der deutlich zu hören ist und unfassbar viel Charakter verleiht. Leider ist das Spiel auf Englisch vertont – auch wenn ich diese Vertonung ohne Beanstandung genießen konnte, wäre eine deutsche Vertonung für ein noch bessere Spielgefühl ideal gewesen. Die Untertitel sind in ein gutes Deutsch übersetzt. Da in einzelnen Szenen nicht zu viel passiert, ist es auch leicht, die Untertitel während der Handlung zu verfolgen.
The Wreck hat aber auch mit wenigen Schwächen zu kämpfen. Es kann passieren, dass bestimmte Objekte während einer Erinnerungssequenz flimmern. Das geschah bei mir beispielsweise in einer Erinnerung, in der ein großes Gebäude zu sehen war. Die Textur flackerte dann immer zwischen schwarz und seiner eigentlichen Textur hin und her, was sichtlich unangenehm war und das immersive Spielgefühl schädigte. Auch lästig sind die Münder der einzelnen Dialogpartner. Sie bewegen ihren Mund nur einmal auf und sprechen und schließen ihn wieder, wenn sie fertig sind. Leider passt das nicht zu der restlichen stimmigen Atmosphäre des Spiels.
Der Hummer und dessen Leben und Sterben spielt in einer Erinnerung eine große Rolle – das Spiel arbeitet mit interessanten Symbolen und Metaphern und schafft es so eine tiefere Ebene verschiedener Situationen zu erreichen. Dabei besteht auch die Chance, dass nicht jeder Spieler zu demselben gedanklichen Schluss kommt. Ähnlich wie Hummer landen Spieler im Netz der einnehmenden und erschütternden Erzählung von Junon. Ihre Suche nach Antworten und ihre Probleme mit sich und anderen sind derart real, dass es mich gruselte. Ihre teils zynischen Gedanken und Aussagen lassen sie einerseits sympathisch, anderseits auch verbittert und verletzt wirken. Ihre Charakterentwicklung geschieht schrittweise vor den Augen des Zuschauers, was unglaubliche Befriedigung und Spannung auslöst. Verpackt in einer kurzen Spielzeit, ist es die ideale Kurzgeschichte für die Nintendo Switch für daheim auf dem Sofa eingeknuddelt oder eine längere Bahnfahrt unterwegs.
Unser Fazit

8
Ein Spiele-Hit
Meinung von Simon Münch
Mit einer Spielzeit im einstelligen Stundenbereich ist The Wreck genau das richtige Spiel für Fans von emotionalen Kurzgeschichten. Junons Schatten der Vergangenheit zerren an ihr, aber auch an den Beziehungen, die sie pflegte oder zurückließ. Der akute Notfall ihrer Mutter bringt sie in eine unmögliche Lage, die sie dazu animiert, alle wesentlichen Entscheidungen ihres Lebens zu hinterfragen und nach Lösungen für etwas zu suchen, das längst geschehen ist. Die Fesseln, die sie in der Vergangenheit halten, werden im Spiel aber nicht plötzlich komplett für ein Happy End gesprengt. Ihr werdet sehen, wie Junon sich mühselig von einem Streit in den nächsten kämpft und sich durch eine Erinnerung nach der anderen quält. Ihr Pfad der Selbsterkenntnis ist emotional, packend, aber auch vor allem sehr lehrreich. Es ist immer klug, gelegentlich innezuhalten und zu reflektieren. Blinder Aktionismus oder feiges Verstecken bringen keine Lösungen, sondern stricken das Netz eines unglücklichen Lebens nur noch dichter und enger, bis es kein Entkommen gibt.Awards
