Test zu Gothic Classic - Nintendo Switch
Statt gutem Wein gibt's nur saure Milch
Mit einem Remake am Horizont legt Gothic, das Rollenspieldebüt des Essener Entwicklungsstudios Piranha Bytes, in seiner Urversion einen Zwischenstopp auf der Nintendo Switch ein. Seit dem 28. September 2023 können Besitzer/-innen der Hybridkonsole in das konfliktäre Königreich Myrtana eintauchen und dessen gefährliche Strafkolonie aufmischen. Erstmals 2001 für den PC erschienen, verspricht THQ Nordic, der Publisher der besagten Konsolenfassung, eine technisch sauberere Variante für Nintendos Heimgerät, die zahlreiche Fehlerbehebungen beinhalten soll und mit zusätzlichen Funktionen, wie eine vollständige Controller-Steuerung und andere Annehmlichkeiten, daherkommt. Mit schmuckem Ankündigungstrailer und der Veröffentlichung auf Cartridge zielt der österreichische Videospielvertrieb präzise auf das gemeine Nostalgikerherz ... und verfehlt das überlebenswichtige Organ um Längen. Woran das liegt, erfahrt ihr in unserem nachfolgenden Text.
Eigentlich solltet ihr zu Beginn einen großen Bogen um die schwarzen Goblins machen, doch in Gothic Classic stehen die sonst so fiesen Kreaturen einfach nur regungslos herum
© THQ Nordic
Gothic Classic beginnt mit einer Zwischensequenz, welche die Vorgeschichte des ganzen Schlamassels erzählt, in dem ihr euch wenig später wiederfindet. Das Königreich Myrtana befindet sich im Krieg mit den schrecklichen Orks und ist daher auf Waffen, bestehend aus magischem Erz, angewiesen. Der wertvolle Rohstoff wird indes von Gefangenen des Reiches auf der Insel Khorinis abgebaut, deren Minen schon bald zur Strafkolonie werden sollen. Denn im Auftrag des amtierenden Königs Rhobar II soll um das großflächige Gefangenenlager eine Barriere errichtet werden, um die Stollen vom Rest des Eilands abzugrenzen. Hierfür wählt der Herrscher eine Handvoll Magier aus, die dem Befehl umgehend nachkommen. Aufgrund unbekannter Komplikationen sperren sich die magiebewandten Auserwählten versehentlich selbst in der schimmernden Kuppel ein und forschen fortan an einem spektakulären Ausbruchsversuch. Wenig später rebellieren die Insassen, töten die reichstreue Aufsicht und schaffen sich ihr eigenes Ökosystem, welches in Verhandlung mit dem nun abhängigen König um das kostbare Erz tritt. Ihr, ein einfacher, namenloser Gefangener, werdet ebenfalls zum Graben verdonnert und dafür in die Kuppel verbannt. Doch wo zuvor nur die neue Hierarchie für Spannungen sorgte, keimt eine weitere Gefahr auf und eine tödliche Katastrophe rollt langsam, aber stetig heran.
Der Erstling der mittlerweile vierteiligen Rollenspielreihe bietet etwa 25–30 Stunden Spielspaß und ist unterteilt in sechs Akte. Als namenloser Niemand quält ihr euch durch den steinigen Start, schließt euch einem der drei Lager an und steigt allmählich zum Helden auf. Je nachdem, welcher Fraktion ihr euch anschließt, ändert sich der Verlauf eures Abenteuers, allerdings steuert jeder Strang auf dasselbe Ende zu. Geht es in den ersten Spielstunden einzig darum, euch in die erbarmungslose, strikte Hierarchie der Strafkolonie zu integrieren, werdet ihr mit fortlaufender Spieldauer immer mehr von euren Fesseln der Schwäche und Unkenntnis befreit, wodurch sich die Spielwelt kontinuierlich weiter öffnet. Auch überrascht das Spiel mit einigen Wendungen, die aufgrund der niedrig budgetierten Präsentation und des äußerst hölzernen Voice-Actings leider kaum Dramatik versprühen, jedoch nichtsdestotrotz für Spannung sorgen und vor den Bildschirm fesseln. Die Prämisse ist originell, der Cast trotz der schwachen Darstellung einprägsam und die Handlung unvorhersehbar. Auch heute wirkt Gothic Classic noch immer erfrischend und reißt aufgrund seiner angenehmen Kürze kein Loch ins Lebenszeitkonto.
Die wenigen Videosequenzen von Gothic Classic sind leider nur in äußerst niedriger Auflösung vorhanden
© THQ Nordic
Spielerisch erwartet euch ein (Action-)Rollenspiel, das mit eigenen Ideen für Wiedererkennungswert sorgt. Wie bereits erwähnt, startet ihr als schlichter Sträfling ohne nennenswerte Stärken oder anderweitigen Gaben und müsst euch in das (a)soziale Gefüge der Kolonie einbringen. Das heißt, ihr erledigt erst einmal die Drecksarbeit, ehe man euch überhaupt die Möglichkeit zur Entwicklung bietet. So beweist ihr euch in einfachen Botenjobs, kloppt niedere Geschöpfe nieder und sammelt alles auf, was nicht niet- und nagelfest ist, um es in Tauschgeschäften zu verhökern. Die anfängliche Hilflosigkeit ist mittlerweile ein Markenzeichen der Projekte des westdeutschen Teams Piranha Bytes und zieht sich durch deren Portfolio, sei es Gothic, Risen oder Elex. Die Zerbrechlichkeit zum Einstieg mag nicht unbedingt jedem schmecken, trägt jedoch entscheidend dazu bei, dass sich jeder Stufenaufstieg bedeutungsvoll anfühlt. Jedes Level-up steigert eure maximale Lebensenergie und gewährt euch zehn Lernpunkte, mit denen ihr eure drei Attribute – Stärke, Geschicklichkeit und Magie – steigert oder neue Fähigkeiten erlernt. Allerdings findet das nicht in irgendeinem herkömmlichen Charakterfenster statt, sondern muss durch Lehrer geschehen, die ihr an den verschiedensten Orten in der Spielwelt findet.
Bei ihnen könnt ihr beispielsweise lernen, wie man Tiere häutet oder ihnen das Fell abzieht, ihre Krallen entfernt und die Zähne herausbricht. Auch im Umgang mit verschiedenen Waffen oder Magie können euch die Lehrmeister schulen. In manchen Fällen müsst ihr für den neuen Erfahrungsschatz nur ein paar Lernpunkte blechen, häufig kommt jedoch noch ein bestimmter Erz-Betrag hinzu. Der Rohstoff dient eben nicht nur dem Waffenbau, sondern wird auch als Währung verwendet. Wie schon der schwere Einstieg ist auch dieses System inzwischen ein fester Bestandteil der DNS von Piranha Bytes-Produktionen und findet sich in nahezu allen Spielen der Schmiede wieder. Das ist auch gut so, trägt die obligatorische Schule für neue Fertigkeiten & Co. schließlich erheblich zur Glaubwürdigkeit bei.
Nachdem mich Lester stundenlang nur angeschwiegen und keinerlei Reaktion gezeigt hat, spricht er mittlerweile angeregt ... mit sich selbst
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Letztere wurde in Gothic ohnehin von Beginn an großgeschrieben. Die Bewohner/-innen der Spielwelt gehen z. B. einem rudimentären Tagesablauf nach, unterhalten sich lebhaft miteinander, reagieren auf Bedrohungen und merken sich eure Fehltritte genau. Nahezu alle Gebäude und Gewölbe können ohne unterbrechende Ladezeit betreten werden und auch Teleportationen verlaufen ohne langwierigen Schnitt. Habt ihr einmal die Welt von Gothic betreten, versucht man offenbar alles, um die Illusion und den Spielfluss aufrechtzuerhalten. Das verdient Lob und ist auch in der heutigen, modernen Videospielwelt längst keine Selbstverständlichkeit.
Zu den Stärken zählt auch die Umgebung, in der ihr euch über mehrere Stunden hinweg aufhaltet. Das Minental von Khorinis besitzt zwar keine exotischen Klimazonen, jedoch genug Schauplätze/-werte um die Neugierde und den Entdeckungsdrang zu befriedigen. Überall finden sich versteckte Höhlen, verfallene Ruinen, dichte Wälder sowie kleine Lager von Deserteuren und Jägern. Mit einem Kuppeldurchmesser von zwei Kilometern ist der Landstrich zudem überschaubar und kann nach einigen Spielstunden auch ohne Karte gut bereist werden. Freilich hat sich optisch vieles in der Zwischenzeit getan und die grafische Darstellung der Sträflingskolonie wird heute niemanden mehr vom Hocker hauen, aber der allgemeine Charme und die offensichtliche Handarbeit, wie sie in aktuellen Titel teils schmerzlich vermisst wird, pulsieren weiterhin durch die Adern des Seriengrundsteins.
Auch finstere Tempelanlagen wollen in Gothic Classic erforscht werden. Leider können die tollen Schauplätze nicht über die mannigfaltigen Schwächen hinwegtrösten
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Doch wo Licht scheint, werden auch Schatten geworfen – und im Falle von Gothic Classic leider sehr großflächig. Das Spiel birgt trotz angekündigter Kammerjagd unzählige Fehler und Schnitzer, die keiner Qualitätssicherung hätten entgehen dürfen. Außerdem sorgen einige Verschlimmbesserungen dafür, dass das schon damals antiquierte Kampfsystem noch undynamischer wirkt. So führt ein extrem aggressiver, widerspenstiger, automatischer Fokus dazu, dass Gefechte mit mehreren Widersachern zum wirren Glücksspiel verkommen. Hat euer Held einmal einen Gegner ins Auge gefasst, heftet er seinen Blick wie eine Klette an das besagte Gegenüber ... zu eurem eigenen Leid. Denn nähert sich euch währenddessen ein anderer Feind, kann dieser nicht attackiert werden, bis ihr eure gesamte Aufmerksamkeit umgelagert habt – und das ist nicht mal eben mit einem Knopfdruck erledigt. Bei ein bis zwei Gegnern mag das noch zu verschmerzen sein, gegen Ende hin bekommt ihr es allerdings mit ganzen Horden zu tun, die euch aufgrund dieser Einschränkung häufig überrennen werden. Abgesehen davon verfügen manche Widersacher in der originalgetreuen Neuauflage über mächtige Angriffskombinationen, die euch gerne mal so lähmen, dass ihr überhaupt nicht zum Zug kommt und nur eurem Lebensbalken beim Abnehmen zuschauen könnt. Das frustriert und raubt nicht selten den Spielspaß.
Auch Patzer in der Technik ziehen sich durch das gesamte Spiel und äußern sich mannigfaltig. So kann es passieren, dass Personen einfach nicht mehr auf eure Spielfigur reagieren und selbst nach einem Neustart kein Interesse zeigen. Das betrifft nicht nur „unwichtige“ Charaktere, sondern auch bedeutsame Persönlichkeiten, die für das Voranschreiten in manchen Bereichen essenziell sind. Darüber hinaus sorgt ein rätselhafter Fehler dafür, dass manche Bewohner/-innen des Minentals in die Luft katapultiert werden und bei ihrer unsanften Landung unwiederbringlich sterben. Zudem leidet Gothic Classic offenbar an Dyskalkulie, denn die neuen Zehner- bzw. Hunderterschritte im Handelsmenü, um Tauschgeschäfte angenehmer zu gestalten, funktionieren schlicht nicht und sorgen dafür, dass das Spiel sich verrechnet und somit kein Geschäft zustande kommt. Eine vollständige Liste der enthaltenen Fehler würde vermutlich den Rahmen des vorliegenden Textes sprengen, weswegen wir nun mit dem technischen Zustand abschließen werden. Denn auch dort hat sich der Fehlerteufel eingeschlichen und lässt das Spiel (gerade in späteren Kapiteln) häufig abstürzen ... wirklich häufig, insbesondere beim Laden eines Spielstands. Was ebenfalls zu bemängeln ist, ist die Tatsache, dass für die Ankündigung mit der grafisch hübscheren DirectX 11-Fassung geworben wurde, die mit einer deutlich besseren Beleuchtungsqualität und Wassereffekten daherkommt. Davon ist im Endprodukt nichts zu sehen. Gothic Classic schaut nahezu exakt so aus wie die Urfassung, läuft aber immerhin mit halbwegs stabilen sechzig Bildern pro Sekunde. Hört man sich in einschlägigen Reddit-Foren um, soll der beworbene DirectX 11-Renderpfad noch nachgeliefert werden. Auch soll schon bald ein umfangreicher Patch erscheinen, welcher viele der genannten Probleme adressiert. Ob Gothic Classic dann sein Versprechen einlösen kann, wird sich zeigen.
Unser Fazit
4
Erträglich