© Rue de Sèvres, Paris | avant-verlag GmbH

Ich bleibe in unserer Comic-Rezension

Ich bleibe ist ein französischer Comic, geschrieben von Lewis Trondheim und illustriert durch Hubert Chevillard. Glücklicherweise gibt es in Deutschland verschiedene Verlage, die sich anderssprachiger Comics annehmen und diese zuverlässig übersetzen. Ich bleibe ist eine Perle, die sich leicht übersehen lässt, da der Einband genauso unscheinbar wirkt, wie der Titel selbst – ich bin sehr froh, dass sie nicht an mir einfach vorbeiging!


Jeder geht anders mit dem Tod eines nahestehenden Menschen um.

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Im Zentrum der Handlung steht die junge Frau Fabienne, die mit ihrem Lebensgefährten Roland einen Urlaub an einem französischen Strand macht. Unvermittelt stirbt Roland bei einem Spaziergang mit Fabienne durch ein großes Blech, welches wegen eines starken Windes innerhalb eines Wimpernschlags seinen Kopf abtrennt. Falls jetzt jemand glaubt, wir seien mitten im Comic auf Seite 37, der irrt. Innerhalb von fünf Seiten wurden die Hauptpersonen vorgestellt und Roland ist sein Leben los – für mich als Leser ein Schockmoment ohnegleichen.


Der Comic behandelt Fabiennes Reaktion auf diesen äußerst bizarren und plötzlichen Todesfall. Unvermittelt passiert es, ohne Ankündigung – es ist ein sinnloser Tod, sofern Tode Sinn haben können. Nun steht sie da, Fabienne, mitten in einem Urlaubsort, mit glücklichen Menschen um sich herum. Eigentlich sollte sie sich um die Überführung des Leichnams kümmern und in ihrer Heimat der Beerdigung beiwohnen, doch zu meiner Verwunderung bleibt sie und macht „Urlaub“. Dieser Trip wurde von Roland minutiös durchgeplant, Fabienne wollte nicht mal an den Strand fahren, aber Roland bestand darauf. Viele Aktivitäten stehen auf der Liste und Fabienne hakt eine nach der nächsten ab. Doch Freude zeigt sie keine. Anrufe aus der Heimat ignoriert sie, dem Bruder von Roland, der den Leichnam an ihrer Stelle überführt, weicht sie aus. Sie verdrängt die Situation vollständig, in ihren Augen herrscht Ausdruckslosigkeit vor. Erst als sie einem ulkigen Anwohner namens Paco begegnet, mit diesem ein paar Worte wechselt und somit zumindest teilweise von der strikten Planung Rolands abweicht, gelingt es ihr zumindest in Teilen, lebendiger zu wirken. Dass dieser Mann einen ganzen Ordner mit Zeitungsartikel voll sinnloser Tode sammelt, macht die Situation kompliziert und für den Leser erst recht interessant.


Die Handlung von Ich bleibe folgt einer klaren Erzählstruktur. Es wird auf keine Rückblenden gesetzt und Fabienne steht gewöhnlich im Fokus. Dem Illustrator Hubert Chevillard gelingt ein interessantes Kunststück mit seinen Zeichnungen: In Panels, wo Fabienne zu sehen ist, wirkt alles trotz des Detailreichtums leer und leblos. Wenn aber plötzlich Zeichnungen der Umgebung auftauchen, strotzen diese von Trubel und Lebendigkeit. Fabiennes ausdrucksloses Gesicht schafft es, alles um sie herum leblos aussehen zu lassen und alles Glück auszusaugen. Erst wenn der Anwohner Paco mit im Bild dabei ist, bekommen die Bilder Dynamik und Lebendigkeit und Fabienne wirkt dann eher wie ein lebendiges Wesen.


Die Panels sind alle sehr ordentlich aneinandergereiht. Klassisch werdet ihr in dem festgebundenen Buch rechteckige und viereckige Bilder sehen, die in Reih und Glied beieinanderstehen. Jede Szene ist vollständig koloriert und strotzt vor verspielten Details, ohne überladen zu wirken. Ebenso klar strukturiert sind die Sprechblasen, welche zweckdienlich als Rechteck an den Rand geschoben sind, sodass wesentliche Bildelemente nicht verdeckt werden. Im Kontrast dazu steht die gewählte Schriftart, die zwar leserlich ist, aber durchaus unordentlich geschrieben wirkt. Lilian Pithan gelingt es mit der Übersetzung ins Deutsche, den Leser zu fesseln. Die Gespräche wirken natürlich und bieten auch eine Fülle an umgangssprachlichen Worten.


Der Comic entfaltet meiner Ansicht nach den größten Unterhaltungswert nicht während des Lesens, sondern viel mehr danach. Die Handlung ist fesselnd und die Unvorhersehbarkeit der Geschichte ist spannend, sodass sich jede Seite regelrecht verschlingen lässt. Das Ende des Comics kommt unvermittelt. Wer nach dem Comic über Fabiennes Beweggründe nachdenkt, wird bemerken, dass die Geschichte wesentlich vielschichtiger ist, als es die Erzählung während des Lesens vermuten lässt. Ungereimtheiten fallen auf, die gewisse Dinge, die man am Anfang für selbstverständlich hielt, geschickt infrage stellt. Nie wird auch nur darüber gesprochen, wie Fabienne zu Roland gestanden hat – sie planten eine Familie zusammen, aber welche Gefühle hegte sie für ihn? Wieso hielt sie sich so lange an diesen minutiösen Plan, obwohl es sie nicht unterhielt und teilweise sogar bestürzte? Wieso wollte sie nicht, dass „denen“ (Rolands Familie) ihre Nummer gegeben wird? Je tiefer ihr grabt, desto mehr Zündstoff für Diskussionen entsteht – zumindest war dies etwas, was in der Redaktion aufgefallen ist und meiner Meinung nach den Comic zu einer wahren Perle macht.


Wenn ihr euch einen kleinen Eindruck von den tollen Zeichnungen verschaffen möchtet, könnt ihr hier eine Leseprobe online einsehen.


Ich bleibe ist erschienen bei avant-verlag.

  • Hardcover, farbig
  • ISBN: 978-3-96445-089-0
  • 19,5x27cm, 128 Seiten
  • 24,00 €


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Unser Fazit

Meinung von Simon Münch

Ich bleibe konnte mich mit den ersten Seiten erschrecken und regelrecht an Fabienne und ihren „Urlaub“ ketten. Ich konnte mich von diesem Titel nicht loseisen und habe ihn in nur einer kurzen Sitzung verschlungen, ohne mitzubekommen, wie die Zeit verstrich. Bewegt blieb ich nach dem Abschluss zurück und auch der rege Austausch in unserer Redaktion reichte bisher noch nicht aus, meine Lust an dem Titel vollständig zu stillen. Lewis Trondheim (Handlung), Hubert Chevillard (Illustration) und Lilian Pithan (Übersetzung) gelingt es durch einen klaren Handlungsstrang, sortierten Panels und Detailreichtum in Sprache und Illustration gleichermaßen einen Kontrast zwischen Fabienne, als Frau, die einen Menschen verloren hat, zum Rest der Urlauber, die in Freude schwelgen, zu schaffen. Die Thematik könnte ernster nicht sein und das Verhalten der Protagonistin verwundert. Erst durch die Hilfe eines Anwohners, welcher mit Weisheiten und seiner groben Art und ausgeprägter Individualität fasziniert, schafft es Fabienne wieder, sich in einen lebendigen Menschen zu verwandeln. Wer den Comic einmal gelesen hat, wird sicherlich verlockt sein, ihn ein weiteres Mal zu lesen, um etwaige Details zu finden, die mehr Aufschluss über die oberflächlich einfache, aber in Wirklichkeit komplexe Handlung geben. Ich empfehle, den Comic zu zweit oder als Gruppe zu lesen, da er sicherlich wunderbare Diskussionen fördern kann.
Mein persönliches Highlight: Die ungeklärten Fragen und deren mögliche Interpretation

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